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Katechesen
2002/2003
7. Jahresreihe - 7. Katechese, 06.04.2003
Thérèse von Lisieux und die
Stadtmission |
Am 14. Dezember 1927, ziemlich genau 30 Jahre nach ihrem Tod,
hat Papst Pius XI. Thérèse von Lisieux zur Patronin der Missionen in der
ganzen Welt ernannt. Thérèse wäre damals 54 Jahre alt gewesen, heute würden
wir sagen kein Alter. Sie ist am 30. September 1897 mit 24 Jahren gestorben.
Papst Pius XI., der sie zuerst selig- und dann zwei Jahre später
heiliggesprochen hat, hat sie als den „Stern seines Pontifikats“ bezeichnet.
Was hat ihn bewogen, diese Karmelitin, die mit 24 Jahren gestorben ist, die
seit ihrem Eintritt nie aus ihrem Kloster herausgekommen ist, zusammen mit dem
hl. Franz Xaver, dem großen Jesuitenmissionar, der den ganzen Orient
durchreist hat, zur Patronin der Weltmission zu bestimmen? Eine Karmelitin und
die Mission.
Heute möchte ich fragen: Was kann uns Thérèse über die Stadtmission sagen,
über das, was das Innerste und Wichtigste bei der Mission ist? Der Heilige
Vater hat sie am 19. Oktober 1997 zur Kirchenlehrerin ernannt, 100 Jahre nach
ihrem Tod. Es gibt heute in Afrika, so sagte mir Weihbischof Guy Gaucher von
Lisieux, über 40 Schwesternkongregationen, die Thérèse als ihre Gründerin, als
ihre Patronin betrachten. Was hat Thérèse mit der Mission zu tun? Wenn wir an
Paulus zurückdenken, in den letzten beiden Katechesen, was hat sie mit ihm
gemeinsam? Was unterscheidet sie? Was hat sie uns Wesentliches über die
Mission zu sagen? Ich möchte wieder in drei Schritten vorgehen, zuerst einen
kurzen Blick auf ihr Leben werrfen, das ist den meisten bekannt, ich sage da
wohl kaum etwas Neues, dann zweitens einige Schlüsseltexte vorstellen, sie
wird heute vor allem selber zu Wort kommen, und schließlich die Frage: Was ist
das Geheimnis ihrer missionarischen Wirksamkeit heute? Offensichtlich ist sie
nach wie vor voll und ganz am Werk. Wir wollen um ihre Fürbitte, ihren Schutz
für die Stadtmission auch bitten.
I.
Ihr Vater war Uhrmacher, die Mutter war Dentellière, sie hat Spitzen gemacht,
wie das in der Normandie üblich ist. Beide wollten eigentlich ein
gottgeweihtes Leben, ein eheloses Leben führen in der Ordenskonsekration an
Gott, aber der Wille Gottes war offensichtlich ein anderer. Sie hatten neun
Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter sind schon als Kinder gestorben. Thérèse
war die jüngste, die neunte, am 2. Jänner 1873 geboren. Schon mit zwei Jahren
sagt sie: „Je serai religieuse.“ Was hat sie sich darunter vorgestellt? „Ich
werde Ordensschwester werden.“ Thérèse ist erst vier Jahre alt, als die Mutter
stirbt. Dieser schwere Einschnitt in ihrem Leben hat wohl auch entscheidend
dazu beigetragen, dass sie jahrelang unter allen möglichen
Krankheitsphänomenen gelitten hat, besonders empfindsam war. Pauline, ihre
ältere Schwester, tritt 1882 in den Karmel ein, und Thérèse sagt gleich: „Auch
ich werde Karmelitin sein“, aber „pour Jésus seul“ – „für Jesus allein“. Ihre
erste heilige Kommunion ist ein unvergesslicher, tiefer Moment der völligen
Verbindung, der Verschmelzung, wie sie sogar sagt, mit Jesus. Ihre wohl auch
psychosomatischen Krankheiten steigern sich, und sie ist in Lebensgefahr. Sie
erlebt die Heilung durch das Lächeln der Muttergottesstatue in ihrem Zimmer,
„La Vierge du Sourire“ – „die Jungfrau des Lächelns“. Maria hilft ihr. Es
kommt zu dieser entscheidenden Gnade, von der ich noch sprechen werde, der
Weihnachtsgnade 1886, in der sie von ihren Skrupeln, ihren Ängsten geheilt
wird. Zu den ersten prägenden Erfahrungen gehört nach dieser Weihnachtsgnade
die Geschichte mit Pranzini, dem mehrfachen Mörder, der zum Tod verurteilt
war. Auch davon werde ich noch reden. Mit fünfzehn ist Thérèse schon
ungeduldig, sie will Karmelitin werden und auf einer Wallfahrt nach Rom, die
einen Monat lang dauert, wagt sie es, sich dem greisen Papst Leo XIII. zu
Füßen zu werfen und ihn zu bestürmen, dass er ihr erlaubt, Karmelitin zu
werden. Am 9. April 1888 tritt sie in den Karmel ein, und sie sagt: „um Seelen
zu retten und um für die Priester zu beten“, über beides werden wir noch
sprechen.
Alles ist in ihrem Leben auf Jesus zentriert. Es ist
eigenartig, man kann ihre Schriften durchsehen, das kann man jetzt alles mit
dem Computer machen, es gibt sie auf CD-ROM, man kann mit Knopfdruck sich auch
alle Wortstatistiken ausgeben lassen. Der Name Jesu kommt etwa 1600mal vor,
Christus ungefähr 20mal. Immer ist es Jesus. Er ist ihre einzige Liebe, „Jésus
mon unique amour“ – „Jesus, meine einzige Liebe“. Wenn es einen Sinn in ihrem
Leben gibt, das wird auch der ganze Sinn ihrer Mission sein, wir kommen dann
vor allem im dritten Punkt darauf: „L’Aimer [Jésus] et Le faire aimer“ – „Ihn
lieben und dazu arbeiten, dass die anderen ihn lieben“, dass möglichst viele
Menschen Jesus lieben (Brief 220). Aber sie selber hat die ganz bescheidene
Zielvorstellung, sie möchte Jesus so lieben, wie er noch nie geliebt worden
ist, ganz bescheiden. Aber das gehört zu ihrem Weg, zu ihrem Leben. Sie
spricht immer von „de désir infini“ – „unendlichem Verlangen“. Sie hat ein
unendliches, durch nichts zu begrenzendes Verlangen, Jesus zu lieben.
Freilich, ihr Leben ist ganz unscheinbar. Eine Schwester im Kloster sagte, als
sie schon sehr krank war und man absehen konnte, dass sie bald sterben wird:
Was wird man wohl im Nachruf über diese kleine Schwester schreiben können?
Gibt es da überhaupt etwas zu berichten?
Etwas was die beiden letzten Jahre ihres Lebens besonders prägt, ist die
Brieffreundschaft, ja die geistliche Freundschaft mit zwei Priestern, zwei
Missionaren, einer in Afrika und einer in China, Abbé Bellière und P. Roulland.
Sie hatte sich immer einen Bruder gewünscht, sie hatte nur die beiden kleinen,
früh gestorbenen Brüder im Himmel, und ihre Eltern hatten sich gewünscht, dass
einer ihrer Söhne Priester und Missionar wird. Sie sagt einmal: „Priester kann
ich nicht werden, aber Missionar.“ Sie ist es geworden.
Sie stirbt am 30. September 1897 an Tuberkulose, die sie
hingerafft hat. Die letzten Monate ihres Lebens lebt sie in einer, wie sie
selber sagt, „dichten Finsternis“, einer unvorstellbaren Glaubensprüfung.
Alles Spürbare Wahrnehmen der Nähe Gottes ist weg, sie geht durch eine tiefe
Dunkelheit im bloßen, im nackten Glauben bis zum Schluss.
II.
Fragen wir jetzt nach diesem kurzen Überblick über dieses kurze Leben und
dieses so dramatische Sterben: Was sind die Schlüssel ihrer missionarischen
Tätigkeit? Ich möchte drei sehr bekannte Stellen herausgreifen, die in ihren
autobiographischen Schriften im ersten Heft, wo sie von ihrer Zeit vor dem
Ordenseintritt spricht, hinter einander stehen. Es sind drei Erlebnisse mit
vierzehn Jahren. Thérèse ist höchst wach und intelligent, sie hat eine ganz
schnelle und lebendige Auffassungsgabe und vielfältige Begabungen.
1. Die erste dieser entscheidenden Erfahrungen ist die
„Weihnachtsgnade“. Ich darf sie einfach selber zu Wort kommen lassen: „Es war
am 25. Dezember 1886, da mir die Gnade zuteil wurde, der Kindheit zu
entwachsen, kurz, die Gnade meiner vollständigen Bekehrung. – Wir kamen von
der Mitternachtsmesse heim, wo ich das Glück hatte, den starken und mächtigen
Gott zu empfangen.“ – Das heißt die Kommunion zu empfangen. – „Als wir in den
Buissonnets anlangten, freute ich mich darauf, meine Schuhe aus dem Kamin zu
holen.“ – In Frankreich gab es damals keinen Christbaum, sondern man hat die
Schuhe in den Kamin gestellt, da waren dann vom Christkind Geschenke drin.
Sehr viel Platz hat es nicht in den Schuhen, es können nur kleine Freuden
sein. – „Dieser alte Brauch hatte uns in unserer Kindheit soviel Freude
bereitet, dass Céline damit fortfahren wollte, mich wie ein kleines Kind zu
behandeln, da ich nun einmal die Jüngste der Familie war... Papa freute sich,
mein Glück zu sehen und meine Jubelrufe zu hören bei jeder Überraschung, die
ich aus den verzauberten Schuhen zog […] Aber Jesus wollte mir zeigen, dass
ich mich von den Fehlern der Kindheit befreien sollte und entzog mir auch
deren unschuldige Freuden; er ließ es zu, dass Papa, ermüdet von der
Mitternachtsmesse, ärgerlich wurde, als er meine Schuhe im Kamin stehen sah,
und Worte sagte, die mir das Herz durchbohrten: «Nun, gottlob ist es das
letzte Jahr! ...» […] Céline, die meine Empfindsamkeit kannte und Tränen in
meinen Augen schimmern sah, hätte am liebsten auch welche vergossen, [...]
«Ach! Thérèse!» sagte sie, «geh nicht hinunter, es wäre zu schmerzlich für
dich, jetzt gleich in deine Schuhe zu schauen.» Aber Thérèse war nicht mehr
die gleiche. Jesus hatte ihr Herz umgewandelt! Ich drängte meine Tränen zurück
und eilte die Treppe hinunter; mein Herzklopfen unterdrückend, nahm ich meine
Schuhe, stellte sie vor Papa hin und zog fröhlich alle Gegenstände hervor,
glücklich ausschauend wie eine Königin. Papa lachte, auch er war wieder
fröhlich, und Céline glaubte zu träumen!... Zum Glück aber war es süße
Wirklichkeit, die kleine Thérèse hatte ihre Seelenstärke wiedergefunden, die
sie im Alter von viereinhalb Jahren verloren hatte, und die sie sich nunmehr
für immer bewahren sollte!... In dieser lichtstrahlenden Nacht begann mein
dritter Lebensabschnitt, der schönste von allen, der am reichsten mit
himmlischen Gnaden erfüllte... In einem Augenblick hatte Jesus vollbracht was
mir in zehnjähriger Anstrengung nicht gelungen war, er begnügte sich mit
meinem guten Willen, an dem es mir nie fehlte.“ – Jetzt achten Sie auf ihre
wunderbare Art, die Heilige Schrift in ihr Leben herein zu ziehen und aus dem
Evangelium, aus der Heiligen Schrift ihr Leben zu deuten: „Wie die Apostel
konnte ich ihm sagen: «Herr, ich habe die ganze Nacht gefischt und nichts
gefangen» (Lk 5,5). Noch barmherziger gegen mich als gegen seine Jünger nahm
Jesus selbst das Netz, warf es aus und zog es gefüllt mit Fischen wieder
ein...“ – Unglaublich gewagt, wie sie das Evangelium, diese Stelle: „Werft die
Netze noch einmal aus!“ (Lk 5,4), das Motto, das Kardinal Groër für sein
Bischofsamt genommen hatte: „Auf dein Wort hin“ (Lk 5,5) werfen die Apostel,
wirft Petrus noch einmal das Netz aus. Hier sagt Thérèse: Jesus selber hat es
ausgeworfen und gefüllt mit Fischen wieder eingeholt. Sie sagt weiter: „Er
machte mich zum Seelenfischer.“ – Jesus sagt zu den Aposteln: „Von jetzt an
werdet ihr Menschen fangen“ (Lk 5,10). – „Ich spürte ein großes Verlangen, an
der Bekehrung der Sünder zu arbeiten, ein Verlangen, das ich vorher nicht so
lebhaft empfunden hatte... Ja, ich fühlte die Liebe in mein Herz einziehen,
das Bedürfnis, mich selbst zu vergessen, um Freude zu machen, und von da an
war ich glücklich! ...“ (Selbstbiographische Schriften 95-97).
Das ist also die Gnade der Weihnacht, diese plötzliche, ihr
Leben umkehrende Gnade, die sie mit vierzehn Jahren erfährt. Was ist diese
Gnade? Sich selbst zu vergessen, um Freude zu machen, das heißt die Befreiung
aus der Gefangenheit in die eigene Empfindsamkeit, in die Selbstbezogenheit,
diese Überempfindlichkeit, unter der sie und ihre Geschwister so gelitten
haben. Von jetzt an wird nichts mehr sie aufhalten. Sie wird sich nicht mehr
bei sich selber aufhalten, sie wird nicht mehr auf ihre Schwächen schauen, im
Gegenteil, ihre Schwächen werden Anlass, nicht bei sich selber hängen zu
bleiben. Sie wird ganz fähig zur Zuwendung: „Ich fühlte die Liebe in mein Herz
einziehen.“ Sie wird fähig zu dieser unglaublichen Zuwendung, Aufmerksamkeit,
Wachheit, die ihr Leben von jetzt an bestimmt. Ihr Blick ist nicht mehr auf
sich selber gerichtet, auf ihr Leid, ihre Schwächen, sondern auf Jesus. „Jésus,
mon unique amour“ – „Jesus, meine einzige Liebe“, das ist jetzt ihre
Lebensorientierung. Deshalb kann sie von sich selber sagen, in aller
Bescheidenheit aber in der Bescheidenheit eines Wissens um die Gaben, die ihr
geschenkt sind: Von jetzt an war ihr Leben „une course de géant“ – „der Lauf
eines Riesen“, das ist ein Psalmwort, das sie hier gebraucht. Der Psalm sagt
es von der Sonne, die wie ein Held über den Himmel zieht (Ps 19,6) – „une
course de géant“. So sieht sie ihr eigenes Leben.
2. Dieses Freiwerden von sich selber und sich Zuwenden zu
Christus, seiner Leidenschaft, seiner Liebe zu den Menschen, das ist das
Geheimnis ihrer Missionskarriere. Das sieht man gleich in der zweiten
Schlüsselerfahrung, die unmittelbar anschließt: „Als ich eines Sonntags die
Photographie unseres Herrn am Kreuz betrachtete, ward ich betroffen vom Blute,
das aus einer seiner Göttlichen Hände floss. Ich empfand tiefen Schmerz beim
Gedanken, dass dies Blut zur Erde fiel, ohne dass jemand herzueilte, es
aufzufangen. Ich beschloss, im Geiste meinen Standort am Fuße des Kreuzes zu
nehmen, um den ihm entfließenden Göttlichen Tau aufzufangen, und begriff, dass
ich ihn nachher über die Seelen ausgießen müsse... Der Schrei Jesu am Kreuz
widerhallte ununterbrochen in meiner Seele: «Mich dürstet!» (Joh 19,28). Diese
Worte entfachten in mir ein unbekanntes, heftiges Feuer... Ich wollte meinem
Viel-Geliebten zu trinken geben und ich fühlte mich selbst vom Durst nach
Seelen verzehrt...“ (Selbstbiographische Schriften 97).
Es ist wirklich ein erstaunlicher Text, machtvoll. Thérèse ist ganz wach
geworden, ihr Herz kann mitleiden, sie sieht den Herrn am Kreuz. Sie sieht das
Blut aus seinen Wunden. Aber es ist nicht nur Mitleid mit seinem physischen,
körperlichen Leid, es ist die Erschütterung darüber, dass das für uns
vergossene Blut so unbeachtet bleibt, dass, wie Franziskus sagt, die Liebe
nicht geliebt wird. Dieser Schmerz trifft sie. Das ist das tiefste Mitleid mit
dem Heilswillen Jesu. Warum wird Jesu Liebe nicht mehr angenommen? Da
beschließt Thérèse, wieder unglaublich gewagt, sich beim Kreuz aufzuhalten,
„de me tenir en esprit au pied de la Croix“ – „im Geist mich am Fuß des
Kreuzes aufzuhalten“, dort meinen Platz zu finden, dort, wo Maria, Johannes
und Maria von Magdala standen, aber nicht passiv, sondern aktiv, um das
göttliche Blut aufzufangen. Mich fasziniert immer wieder an Thérèse dieses
Gewagte, dieses unglaublich eigentlich alle ängstlichen Maße Sprengende: „Ich
begriff, dass ich es nachher über die Seelen ausgießen müsse.“ Sie hat eine
Heilsaufgabe. – Ich erwähne nur in Klammer, man müsste es sich näher
anschauen, die erstaunliche Parallele zum so genannten dritten Geheimnis von
Fatima, wo es eine ganz ähnliche Passage gibt. – Es ist eine direkte, mit
Christus verbundene Mission, die schon damals im Grunde grenzenlos ist. Wenn
Christus sein Blut für alle vergossen hat, so will Thérèse immer entschiedener
das Heil aller, weil es Jesu Wille ist. Sie will deshalb Jesu Durst stillen,
ihr Mitleid mit ihm wird zum Durst, an seinem Werk teilzunehmen. Ihr Durst
wird sein Durst nach Seelen. Sie zeichnet dann ein kleines Bild, ein
Kreuzesbild, auf das sie diese beiden Worte zusammen schreibt: „Mich dürstet“,
Jesu Wort am Kreuz (Joh 19,28), und daneben das andere Wort, das Jesus zur
Samariterin sagt: „Gib mir zu trinken“ (Joh 4,7). Sie deutet es in diesem
Sinn.
„Seelen retten“, das hat man ein wenig belächelt, hat gesagt,
das sei überholt, eine altmodische Sprechweise. Aber erinnern wir uns
vielleicht an die erste Katechese: Was ist denn Mission? Ist das nicht zuerst
eine Rettungsaktion? Erinnern wir uns daran, wie Jesus im Abendmahlssaal
inständig gebetet, den Vater angefleht hat, dass keiner verloren gehe (Joh
17,15), von denen „die du mir gegeben hast“. So sagt Thérèse im Blick auf
dieses Bild des Gekreuzigten: „Ich brannte vor Verlangen, die großen Sünder
den ewigen Flammen zu entreißen.“
3. Die dritte Erfahrung geht genau in diese Richtung. Sie sagt
selber gleich anschließend: „Um meinen Eifer anzuspornen, zeigte mir der Liebe
Gott, dass ihm mein Verlangen wohlgefällig sei.“ – Dann kommt die Geschichte
von Pranzini, die so bewegend ist, dass ich immer aufpassen muss, dass ich
nicht zu weinen anfange. Man hat vor einigen Jahren in einem anatomischen
Institut in Frankreich die Büste von diesem Pranzini wiedergefunden, dessen
abgeschlagenes Haupt man studiert hat, weil man anatomisch sozusagen wissen
wollte, wie kommt ein Mensch dazu, so ein schrecklicher Verbrecher zu sein. –
„Ich hörte damals von einem großen Verbrecher, der wegen schrecklicher
Verbrechen zum Tode verurteilt worden war, alles ließ vermuten, dass er
unbußfertig sterben würde. Ich wollte ihn um jeden Preis daran hindern, der
ewigen Verdammnis anheimzufallen.“ – Wieder dieser unglaubliche Wagemut der
Thérèse! – „Um es dahin zu bringen, wandte ich alle erdenklichen Mittel an;
wohl wissend, dass ich aus mir selber nichts vermochte, bot ich dem Lieben
Gott alle unendlichen Verdienste Unseres Herrn an und die Schätze der Heiligen
Kirche, schließlich bat ich Céline, eine Messe nach meiner Meinung lesen zu
lassen […] Ich hätte gewünscht, dass alle Menschen sich mit mir vereinten, um
die Gnade für den Schuldigen zu erflehen. Im Grunde meines Herzens fühlte ich
mit Gewissheit, dass unser Verlangen erfüllt werden sollte.“ – Sie war sich
dessen gewiss! – „Um mir jedoch Mut zu machen, im Gebet für die Sünder
fortzufahren, sagte ich dem lieben Gott, ich sei ganz sicher, dass er dem
unglücklichen Pranzini verzeihen werde, dass ich dies sogar glauben würde,
wenn dieser nicht beichtete und kein Zeichen der Reue gäbe, so großes
Vertrauen hatte ich in die unendliche Barmherzigkeit Jesu.“ – Das ist Thérèse,
dieses unendliche Vertrauen in die unendliche Barmherzigkeit Jesu. – „Aber ich
bäte ihn doch um «ein Zeichen» der Reue, einfach zu meinem Trost... Mein Gebet
wurde wörtlich erhört. Trotz des Verbotes, das Papa für uns erlassen hatte,
irgendeine Zeitung zu lesen, glaubte ich nicht ungehorsam zu sein, wenn ich
die Stellen las, die von Pranzini handelten. Am Tage nach seiner Hinrichtung
fällt mir die Zeitung «La Croix» in die Hand. Ich öffne sie hastig, und was
sehe ich?... Ach! meine Tränen verrieten meine Bewegung, und ich musste mich
verstecken... Pranzini hatte nicht gebeichtet, er hatte das Schafott bestiegen
und wollte eben seinen Kopf in das grausige Loch, stecken, als er plötzlich,
einer jähen Eingebung folgend, sich umwendet, das Kruzifix ergreift, das ihm
der Priester hinhielt, und dreimal die heiligen Wunden küsst! ... Dann ging
seine Seele hin, das erbarmende Urteil Dessen zu empfangen, der verkündet, im
Himmel werde mehr Freude sein über einen einzigen Sünder, der Buße tut, als
über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Ich hatte das erbetene
«Zeichen», erhalten.“ – Und jetzt schauen Sie, wie Thérèse die Zeichen liest.
– „Und Dieses Zeichen war das getreue Abbild von Gnaden, die Jesus mir gewährt
hatte, um mich zum Gebet für die Sünder anzuspornen. War nicht angesichts, der
Wunden Jesu, als ich sein Göttliches Blut fließen sah, der Durst nach Seelen
in mein Herz eingedrungen? Ich wollte ihnen dies unbefleckte Blut zu trinken
geben, das sie von ihren Makeln reinigen sollte, und die Lippen «meines ersten
Kindes»“ – sie nennt Pranzini „mein erstes Kind“ – „hatten sich auf die
heiligen Wundmale gedrückt!!! ... Welch unsäglich zarte Antwort! ... Oh! seit
dieser einzigartigen Gnade wuchs meine Begierde, Seelen zu retten, jeden Tag,
mir war, ich hörte Jesus zu mir sagen wie zur Samariterin: «Gib mir zu
trinken!» Es war ein wahrer Tauschhandel der Liebe; den Seelen gab ich das
Blut Jesu, und Jesus bot ich eben diese vom Göttlichen Tau erquickten Seelen
an, so glaubte ich seinen Durst zu stillen, und je mehr ich ihm zu trinken
gab, desto größer würde der Durst meiner armen kleinen Seele, und diesen
brennenden Durst gab er mir als den köstlichsten Trank seiner Liebe...“
(Selbstbiographische Schriften 98-99).
Wir verstehen schon, dass Papst Johannes Paul II. sie zur
Kirchenlehrerin ernannt hat. Das ist wirklich machtvolle Lehre. Ich glaube,
man kann nicht umhin, die innere Kraft dieser Worte zu empfinden. Hier spricht
Gottes Kraft und Geist: „mein erstes Kind“ – Ermutigung auf dem Weg der
Fürbitte und des Vertrauens weiter zu gehen. Bald weitet sich die Perspektive
aus, speziell für die Priester zu beten. Es war dann ihre Romreise, wo sie zum
ersten Mal den Klerus aus der Nähe erlebt hat. Sie hatte eine ganz hehre
Vorstellung von den Priestern, dass sie alle heiligmäßig und ganz besonders
sein. Dann einen Monat lang mit ihnen zusammen auf der Pilgerreise nach Rom
hat sie feststellen müssen, dass die geistlichen Herrn in ihrer hohen Würde
doch auch schwache und gebrechliche Menschen blieben. Und so entschließt sie
sich umso mehr, die Berufung des Karmel anzunehmen, für die Priester zu beten.
4. Aber was ist die Apostolatshaltung der Thérèse? Sie fasst
es in ein Wort: „Jesus tut alles. Ich tue nichts“ (Brief 142). Freilich,
dieses nichts, von dem sie hier spricht, ist kein passives. Noch einmal: Sie
hat sehr wohl ein Tun im Auge: „Aimer Jésus et Le faire aimer“ – „Jesus lieben
und machen, dass er geliebt wird“. Das erfordert, wie sie einmal ausführlich
an ihre Schwester Céline schreibt, das Feuer der Liebe zu nähren, zu
unterhalten: „O Céline! Wie leicht ist es, Jesus zu gefallen, sein Herz zu
entzücken. Man braucht ihn nur zu lieben, ohne auf sich zu schauen, ohne allzu
sehr seine eigenen Fehler zu untersuchen.“ – Das sagt die, die früher so von
Skrupeln geplagt war. – „Mein Seelenführer ist Jesus. Er lehrt mich nicht,
meine Tugendakte zu zählen“ – wie sie es gelernt hatte, dass man möglichst
viele Tugendakte zählt. – „Er lehrt mich, alles aus Liebe zu tun, Ihm nichts
zu verweigern, zufrieden zu sein, wenn er mir eine Gelegenheit gibt, ihm meine
Liebe zu beweisen. Dies aber geschieht im Frieden, in der Hingabe [l’abondon].“
– „Jesus tut alles, und ich tue nichts.“ Aber eben dieses „nichts“ heißt für
sie, das Feuer der Liebe zu unterhalten. Sie schreibt noch einmal an Céline,
ihre Schwester: „Die hl. Teresa [von Ávila] sagt, man müsse die Liebe erhalten
[…] Jesus ist mächtig genug, das Feuer allein zu unterhalten, doch freut er
sich wenn er sieht, dass auch wir etwas dazu beitragen.“ – Das kommt immer
wieder: „Jesus Freude machen“. Manchmal sagt sie auch: „Jesus trösten“. – „Ich
habe diese Erfahrung gemacht: Wenn ich nichts empfinde, wenn ich UNFÄHIG bin
zu beten, die Tugend zu üben, dann ist es an der Zeit, kleine Gelegenheiten zu
suchen, Nichtigkeiten, die Jesus Freude bereiten, mehr Freude als die
Herrschaft über die Welt oder sogar mehr als das großmütig erlittene
Martyrium, beispielsweise ein Lächeln, ein liebes Wort, wenn ich nichts sagen
oder ein verdrießliches Gesicht machen möchte usw. usw ... Verstehst Du, meine
geliebte Céline? Es geschieht nicht, um mir einen Kranz, um mir Verdienste zu
erwerben, sondern um Jesus zu erfreuen ... Bieten sich mir keine
Gelegenheiten, dann will ich Ihm wenigstens oft sagen, dass ich ihn liebe […]
O nein! Ich bin nicht immer treu, doch ich verliere nie den Mut. Ich überlasse
mich ganz den Armen Jesu“ (Brief 143, S. 204).
Ganz am Schluss der Autobiographischen Schriften, der
„Geschichte einer Seele“, sagt sie dieses unglaubliche Wort: „Statt mit dem
Pharisäer vorzutreten, wiederhole ich voll Vertrauen das demütige Gebet des
Zöllners; vor allem aber ahme ich das Verhalten Magdalenas nach, ihre
erstaunliche oder vielmehr ihre liebende Kühnheit, die das Herz Jesu entzückt,
reißt auch das meinige hin.“ – Dann sagt sie, es ist praktisch der Schluss
ihrer Autobiographie: „Ja, ich fühle es, hätte ich auch alle begehbaren Sünden
auf dem Gewissen, ich ginge hin, das Herz von Reue gebrochen, mich in die Arme
Jesu zu werfen, denn ich weiß, wie sehr Er das verlorene Kind liebt, das zu
ihm zurückkehrt“ (Selbstbiographische Schriften 275).
Brüder und Schwestern, dieses Vertrauen, dieses grenzenlose
Vertrauen, und hätte ich die schlimmsten Sünden begangen, ich ginge zu Jesus
und würde mich ihm in die Arme werfen, sagt Thérèse. Dieser kleine Weg ist
ihre Mission. Diese Mission will sie allen Menschen bekannt machen.
III.
Sie glaubt, und damit kommen wir zum Schluss, dass diese Mission erst richtig
beginnen wird, wenn sie aus diesem irdischen Leben scheidet. Am Ende ihres
Lebens, in ihrer Krankheit hat sie sich sehr gesorgt darum, dass ihre
Schriften, ihre drei Hefte, die sie über ihr Leben geschrieben hatte, nach
ihrem Tod bekannt gemacht werden. Sie hat sich nicht getäuscht. Innerhalb
eines Jahres ist dieses Buch in der ganzen Welt bekannt gewesen: „L’histoire
d’une âme“ – „Die Geschichte einer Seele“. Das ist ihre Mission. Den beiden
Priesterbrüdern, P. Roulland und Abbé Bellièr, hat sie ihre letzten
missionarischen Intentionen, ihr missionarisches Herz anvertraut. Dem einen
schreibt sie: „Die Entfernung“ – er ist als Missionar in China – „wird unsere
Seelen nie trennen können. Sogar der Tod wird unsere Vereinigung noch inniger
gestalten. Wenn ich bald in den Himmel komme, bitte ich Jesus um die
Erlaubnis, Sie in Su-tchuen“ – in China, wo er Missionar ist – „zu besuchen,
und wir werden unser Apostolat gemeinsam fortsetzen. Bis dahin bleibe ich
Ihnen stets im Gebet vereint, und ich bitte unseren Herrn, er möge mir nie
Freuden schenken, während Sie leiden. Ich möchte sogar, dass mein Bruder immer
den Trost und ich die Prüfungen habe“ (Brief 193, S. 298).
Und im letzten Brief an P. Roulland, diesen Bruder und Freund
in China, schreibt sie: „Wenn Sie diesen Brief erhalten, habe ich zweifellos
die Erde verlassen. Der Herr wird mir in seiner unendlichen Barmherzigkeit
sein Reich aufgetan haben, und ich kann aus seinen Schätzen schöpfen, um sie
an die Seelen, die mir lieb sind, zu verschwenden.“ – Verschwenden, denn im
Himmel gehören ihr alle Schätze Gottes, sagt sie ganz ungeniert, deshalb kann
sie frei darüber verfügen und sie auf die Menschen verteilen. – „[…] Mein
Bruder ich fühle es, im Himmel werde ich ihnen viel nützlicher sein als auf
der Erde, und freudigen Herzens kündige ich Ihnen meinen bevorstehenden
Eintritt in diese glückselige Stadt an in der Gewissheit, dass Sie meine
Freude teilen und dem Herrn danken, dass er es mir ermöglicht, Ihnen in Ihrer
apostolischen Arbeit wirksamer zu helfen. Ich rechne bestimmt damit, im Himmel
nicht untätig zu bleiben. Mein Wunsch ist, weiter für die Kirche und die
Seelen zu arbeiten. Ich bitte den lieben Gott darum, und ich bin sicher, dass
Er mich erhören wird. Sind die Engel nicht immerfort um uns bemüht, ohne je
aufzuhören, das göttliche Antlitz zu schauen […]? Warum sollte Jesus mir nicht
erlauben, es ihnen gleich zu tun? […] Seit langem ist mir das Leiden zu meinem
Himmel auf Erden geworden, und ich habe wirklich Mühe, mir vorzustellen, wie
ich mich in einem Land akklimatisieren soll, wo die Freude ohne jede Mischung
von Traurigkeit herrscht.“ – Sie kann sich nicht vorstellen, wie das im Himmel
sein soll. Dann sagt sie: „[…] Was mich zur Himmlischen Heimat zieht, ist der
Ruf des Herrn, ist die Hoffnung, ihn endlich zu lieben, wie ich es so sehr
gewünscht hatte und“ – das ist jetzt Mission – „der Gedanke, dass ich eine
große Zahl von Seelen ihn lieben lehren darf, die ihn ewig preisen werden“
(Brief 254, S. 370-371).
Wir schließen mit einem Wort, das fast aus derselben Zeit
stammt, aus den letzten Worten, die Thérèse gesagt hat, die die Schwestern
aufgeschrieben haben. Sie sagt am 17. Juli, zweieinhalb Monate vor ihrem Tod:
„Ich spüre, dass meine Mission beginnen wird, meine Mission, den lieben Gott
lieben zu machen, wie ich ihn liebe, meinen kleinen Weg den Seelen zu geben.
Wenn mein Verlangen erhört sein wird, dann wird mein Himmel sich auf Erden
abspielen bis zum Ende der Welt. Ja, ich möchte meinen Himmel auf Erden
verbringen, um Gutes zu tun. Das ist nicht unmöglich, denn auch in der seligen
Gottesschau wachen die Engel über uns. Nein, ich kann im Himmel keine Ruhe
nehmen bis zum Ende der Welt, so lange es Seelen zu retten gibt. Aber wenn
dann der Engel sagt: Die Zeit ist zu Ende!, dann und erst dann werde ich mich
ausruhen, um zu genießen, denn dann erst wird die Zahl der Erwählten
vollständig sein und alle werden in die Freude und in die Ruhe Gottes
eingegangen sein. Mein Herz jubelt bei diesem Gedanken“ (Novissima Verba
81-82).
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