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Katechesen
2001/2002
6. Jahresreihe - 6. Katechese, 17.02.02
"Tugend macht den Menschen
gut" |
"Tugend macht den
Menschen gut"
Komm, Heiliger Geist, Geist der Wahrheit und der Liebe,
erleuchte unseren Verstand, stärke unseren Willen, wohne ein unserem
Gedächtnis, führe uns ein in alle Wahrheit, die da ist Christus unser Herr.
Im dritten Kapitel des Kolosserbriefs lesen wir, es ist die Lesung, die wir am
Ostersonntag noch einmal hören werden: "Ihr seid mit Christus auferweckt;
darum strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes
sitzt. Richtet euren Sinn nicht auf das Irdische, sondern auf das Himmlische!
Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott.
Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm
offenbar werden in Herrlichkeit. Darum tötet, was irdisch ist an euch ab: die
Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die
Habsucht, die ein Götzendienst ist. All das zieht den Zorn Gottes nach sich.
Früher seid auch ihr darin gefangen gewesen und habt euer Leben davon
beherrschen lassen. Jetzt aber sollt ihr das alles ablegen: Zorn, Wut und
Bosheit; auch Lästerungen und Zoten sollen nicht über eure Lippen kommen.
Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten
abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines
Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen. [...] Ihr seid von Gott geliebt,
seid seine auserwählten Heiligen. Darum bekleidet euch mit aufrichtigem
Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig, und
vergebt einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat [...] Vor allem
aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und
vollkommen macht" (Kol 3,1-14*).
I.
Heute soll von den Tugenden die Rede sein. Eben haben wir von einigen dieser
Tugenden gehört, in der Ermahnung des Paulus, die darauf basiert, dass wir
neue Menschen geworden sind durch die Taufe, dass wir, wie Paulus anderswo
sagt, Christus angezogen haben in der Taufe (Gal 3,27). Es ist also von einem
neuen Leben die Rede, von einem grundlegend verwandelten Leben. Aber
gleichzeitig ist die Rede von ganz schlichten Tugenden, von Geduld, Demut,
Güte, Barmherzigkeit. Ich möchte heute die Frage stellen, was es überhaupt auf
sich hat mit den Tugenden, mit den menschlichen Tugenden, den natürlichen und
dann speziell mit den christlichen, und wie sich diese beiden zueinander
verhalten.
Aber beginnen wir bei dem, was letztes Mal der Schlusspunkt war, bei den
Leidenschaften. Von ihrer Bedrohlichkeit, ihrer Macht aber auch von ihrer
positiven Kraft war die Rede. Die Leidenschaften sind eine mächtige Kraft in
unserem Leben, aber sie bedürfen, wie die Rosse hier bei den Fiakern, des
Wagenlenkers, der Zügelung. Ungezügelt können sie zerstörerisch wüten, können
unbändig und unmenschlich werden. Wer hemmungslos ist, ungezügelt im Konsum,
im Essen und Trinken, im Verlangen nach sexueller Lust, im Streben nach
Anerkennung, nach Ehre, Macht, Erfolg, dem fehlt etwas entscheidend
Menschliches. Wir empfinden es nicht als ein geglücktes Menschsein, wenn
jemand zügellos ist. Wer vor jedem Widerstand ängstlich zurückschreckt, sich
gleich anpasst, auch dem fehlt etwas zum vollen, ganzen guten Menschsein. Wer
leicht ausrastet und in Zorn gerät, hemmungslos herumbrüllt, dem fehlt etwas
vom guten und ganzen Menschsein. Wer sich von den Leidenschaften treiben und
davon reißen lässt, den nennen wir lasterhaft. Jähzorn ist ein Laster, Stolz
ist ein Laster aber auch das chronische Bedürfnis nach Anerkennung und Lob ist
ein Laster. Verschwendungssucht ist ebenso ein Laster wie die Kargheit des
Geizes. Was sind die Laster, über die ich heute nicht ausdrücklich und
ausführlich sprechen möchte? Nur kurz, sie sind schlechte Gewohnheiten, die so
etwas wie Fahrrinnen auf einem Waldweg sein können, die sich so tief eingraben
können, dass man mit dem Wagen kaum mehr aus diesen Spurrinnen herauskommt.
Laster sind gewissermaßen Spurrinnen, die uns auf dem falschen Weg festhalten,
Fehlprägungen, denen die guten Gewohnheiten gegenüberstehen, die wir Tugenden
nennen.
Nun ist das Wort "Tugend" heute nicht sehr in Mode, es ist gelegentlich sogar
bespöttelt und belächelt. Und doch, wenn wir weit zurückschauen in der
abendländischen Geschichte bis zu den vorchristlichen Philosophen, mit welcher
Begeisterung sie von den Tugenden sprechen, wie sie das Bild eines erfüllten,
glücklichen Lebens zeichnen, das von den Tugenden geprägt ist, dann
beeindruckt uns das doch auch heute noch, wie ein Platon, ein Aristoteles, die
heidnischen Philosophen das Leben eines Menschen zeichnen, der sich zu
beherrschen weiß, der seine Leidenschaften meistern kann, der in sich selber
gerade und geordnet ist und das nicht nur im Moment sondern auf Dauer. Was
also den Menschen so gerade macht, nicht nur im Augenblick sondern auf Dauer,
was ihn gut macht, das nennen wir die Tugenden. Von denen soll heute die Rede
sein, zuerst einmal von den einfachen menschlichen Tugenden und dann, in einem
zweiten Schritt, die Frage: Wie steht es aber mit den christlichen Tugenden?
Sind sie einfach dasselbe? Sind sie etwas anderes? Wie verhalten sie sich
zueinander?
II.
Die vielleicht einfachste Definition von Tugend, die mir bekannt ist, habe ich
beim hl. Thomas von Aquin gelesen, der wohl einer der größten Meister,
vielleicht der größte Meister im Nachdenken über die Tugenden war, der einen
Großteil seines gewaltigen Werks der genauen Analyse, der genauen Beobachtung
und Sichtung dieser menschlichen Grundhaltungen gewidmet hat, die wir die
Tugenden nennen. Er sagt ganz einfach: "Tugend ist das, was den Menschen, der
sie hat, gut macht." Lateinisch klingt es noch knapper: "... quæ bonum facit
habentem". Die Tugend macht den, der sie hat, gut. Ein guter Mensch, das ist
nicht jemand, der da und dort einmal eine gute Tat tut, sich da und dort
einmal anständig benimmt, sondern der gut ist. Kann das ein Mensch sein?
Können wir gut sein? Nun, die alten heidnischen Meister waren überzeugt, dass
es die Möglichkeit gibt, dass uns durch die Tugenden gewisse Haltungen in
Fleisch und Blut übergehen, so uns zu eigen werden, dass sie uns wirklich gut
machen. Aber sehen wir uns das etwas näher an.
Wenn wir bei den alten, vorchristlichen Meistern schauen, dann zeigen sie uns,
dass die Tugenden ein sehr weites Feld sind. Da gibt es die sittlichen
Tugenden, die Verstandestugenden aber auch die praktischen Tugenden, sozusagen
die handlichen Tugenden, die "Tüchtigkeiten". Aristoteles greift da gerne auf
das Bild des Handwerkers zurück. Der Tischler, der sein Handwerk gelernt hat,
zuerst als Lehrling, dann als Geselle, schließlich es zur Meisterschaft, zum
Meister gebracht hat, der kann sein Handwerk, er hat es intus, er hat es so in
sich, dass es ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der Bäcker, der sein
Handwerk kennt, hat aus langer Erfahrung Wissen und Können angesammelt und
eben die Erfahrung, die erst den Meister macht. Jeder von diesen ist Meister
in seinem Fach. Es ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, so sehr, dass
ihnen die Arbeit leicht von der Hand geht. Wenn man einen Nichtbäcker an einen
Backtrog stellt, wird wahrscheinlich nur Schweiß und kein gutes Brot
hervorkommen. Und einen Nichttischler an die Werkbank zu stellen, auch das
wird nicht ein Meisterwerk hervorbringen. Aber dem, der sein Handwerk gelernt
hat, dem geht die Arbeit ganz natürlich von der Hand. Sie ist ihm
gewissermaßen zur zweiten Natur geworden. Und, etwas ganz Wichtiges: Trotz
aller Mühe, die mit der Arbeit verbunden ist, macht dem, der sie kann, die
Arbeit auch Freude. Es befriedigt den Handwerker, wenn das Werkstück fertig
ist, wenn es gut und ordentlich da steht. Ich erinnere mich an einen
Steinmetz, mit dem ich in einer Kirche einen gotischen Grabstein angeschaut
habe, einen fein ziselierten gotischen Grabstein. Dieser Handwerker, dieser
Steinmetz blieb vor dem Grabstein stehen voller Bewunderung, viel mehr als ich
es konnte. Denn er wusste aus seinem Können, aus seiner Erfahrung, was dieser
Meister dieses mittelalterlichen Grabsteins konnte.
"Übung macht den Meister." Wenn jemand eine Fertigkeit erworben hat, eine
solche Tüchtigkeit, in welchem Bereich auch immer, langes Nichtausüben einer
solchen Fertigkeit lässt diese rosten und vielleicht sogar verkümmern. Das
gilt auch für Sprachen, die man einmal gelernt hat. Wenn man sie nicht
praktiziert, rosten sie. Das gilt für ein Musikinstrument, das man zu spielen
gelernt hat und jahrelang nicht übt. So verkümmern die Tüchtigkeiten. Und noch
etwas, ein solches Können, ob das im Handwerklichen, im Technischen, im
Künstlerischen ist, denken wir an die Piloten, wie viel Übung, wie viel
ständiges Arbeiten an dem Können, an dem Wissen, an der Erfahrung ist da
nötig. Ein solches Können macht den, der es erworben hat, auch gewissermaßen
geneigt zum Handeln. Wer gut Klavier spielen kann, setzt sich auch gerne ans
Klavier, vielleicht um andern Eindruck zu machen, aber auch einfach um selber
die Freude des Klavier Spielens zu erleben.
Wenn wir das zusammenfassen, Tugend, Tüchtigkeit, das ist eine Fertigkeit, die
man durch Übung erwirbt, die ein gewisses Können bedeutet, das einem zu eigen,
gewissermaßen zur zweiten Natur geworden ist und das einen fähig macht zu
einem bestimmten Handeln, nicht nur fähig sondern auch geneigt. Man hat Freude
daran. Der hl. Thomas sagt sogar, es ist lustvoll, es macht Lust und Freude,
etwas was man kann, was man erworben hat, was einem zu eigen geworden ist auch
auszuüben. Aber wir wissen auch, alles dieses Können, von dem bis jetzt die
Rede war, im künstlerischen, technischen, handwerklichen Bereich, alles das
macht noch nicht einen guten Menschen, vielleicht einen guten Bäcker, einen
guten Piloten, einen guten Computerfachmann, aber das allein macht noch nicht
einen guten Menschen.
III.
Zum gelungenen Menschsein gehört noch etwas anderes. Dazu gehört auch
Schulung, Entwicklung, Gestaltung, aber nicht nur einer Fähigkeit sondern des
ganzen Menschen, der Persönlichkeit, der sittlichen und menschlichen
Qualitäten. Genau das ist das Werk der Tugenden. Das sollen die Tugenden im
Menschen erreichen, dass man wirklich ein abgerundeter, ein ganzer, ein
geglückter Mensch wird. Wie geschieht das? Wie ordnen wir unser Leben? Wie
wird man ein guter Mensch?
Man kann fragen: Ist denn der Mensch nicht von Natur aus gut? Gott hat ihn
doch gut geschaffen. Kann man nicht Kinder einfach wachsen lassen, ungestört
und frei sich entfalten lassen? Es gibt hier zwei Sichtweisen, die in den
letzten Jahrzehnten oft gegeneinander ausgespielt wurden, was auch ganz
praktische Konsequenzen hat. Freilich wurden beide, so scheint es mir, auch
vom Leben widerlegt.
1. Die "antiautoritäre Erziehung", die in den Sechziger- und Siebzigerjahren
ihre Blüten getrieben hat, ging davon aus: Der Mensch ist von Natur gut, man
braucht ihn nur wachsen zu lassen, dann wird er schon gut werden. Alles, was
ihn stutzt, was ihn eingrenzt, alles, was autoritär ihn an seiner Entwicklung
hindert, was wie Zwang, wie Druck aussieht, das muss man vermeiden, damit das
Kind sich frei entfalten kann. Ich vermute, die vielen Eltern, die hier
anwesend sind, wissen, dass das Resultat einer solchen Erziehungsmethode oder
Nichterziehung katastrophal ist. Denn offensichtlich brauchen Kinder nicht
autoritäre Erziehung, aber Autorität, Formung. Nicht nur die Kinder, auch wir
Erwachsenen brauchen Grenzziehungen, Widerstand gegen unsere schlechten
Neigungen, aber auch, und das ist sicher ein Grundfehler in der
antiautoritären Erziehung, das ernst-genommen-Werden in dem Ringen um den
eigenen Weg, der sich mit anderen Wegen, mit anderen Freiheiten auseinander
setzen muss, der auch Grenzen erfahren muss, an denen man wachsen kann. Eine
solche Nichterziehung, wie sie die Antiautoritäre Erziehung war, nimmt im
Grunde das Kind nicht ernst. Es reicht sicher nicht, dass mich Eltern und
Erzieher einfach meinen Trieben und Gefühlen überlassen, meiner Lust und
Laune. Das kann nicht gut gehen.
2. Aber es gibt auch einen zweiten Weg. Die antiautoritäre Erziehung hat
vielfach gegen diesen Weg reagiert, eine autoritäre Erziehung, die die
Erziehung zur Tugend vor allem als eine "Dressur" verstand. Ich kann mich
erinnern an eine Äußerung von einem Vater, der sagte: "Bis sechzehn muss man
sie dressieren." Ich weiß nicht, ob das die richtige Sicht ist und ob nicht
die antiautoritäre Erziehung eine Reaktion auf eine solche Sicht von Erziehung
war, wo es darum zu gehen schien, den Kindern die rechten Verhaltensweisen
einzubläuen, sozusagen die richtigen Reflexe beizubringen, so wie jener
berühmte Hund des sowjetischen Psychologen Pawlow, dem man immer vor dem
Füttern eine Glocke geläutet hat. Dann hat man festgestellt, wenn die Glocke
ohne Futter läutet, läuft ihm auch der Saft im Mund zusammen - "pawlowsche
Reflexe", so genannte andressierte, anerzogene Reflexe. Sind Tugenden
anerzogene Reflexe? Sind das Verhaltensweisen, die man uns eingebläut hat,
gewisse Vorstellungen von Anständigkeit, die man uns beigebracht hat? Das wäre
sicher eine Karikatur.
Gewiss, Tugenden entstehen durch Wiederholung, durch wiederholtes Tun des
Richtigen und des Guten. Wenn die Eltern sagen: "Halt dich gerade!", und das
immer wieder sagen und immer wieder sagen, dann geht einem das in Fleisch und
Blut über. Man erinnert sich daran. Daran liegt natürlich auch ein gewisser
Gewöhnungseffekt. Es gibt ja gute Gewohnheiten, die sich anzugewöhnen auch
durch äußeren Drill zumindest nicht schlecht ist. Leider entstehen auch
Laster durch Gewöhnungseffekte. Wenn man nicht dagegen ankämpft, dann werden
sie zu Gewohnheiten, eben zu schlechten Gewohnheiten. Die Gewohnheit des
Tratschens oder gar des Vernaderns kann eben auch ein Laster werden, eine üble
Gewohnheit. - Ob das Rauchen eine solche ist, möchte ich jetzt hier nicht
beurteilen als ehemaliger Raucher. - Das Laster des Zornes nistet sich ein
durch wiederholtes Nichtbekämpfen des Zorns und seines Aufwallens. Freilich
besteht zwischen Lastern und Tugenden ein ganz wesentlicher Unterschied. Sie
sind nicht einfach auf der selben Ebene, gute und schlechte Verhaltensweisen,
die man sich so oder so "andressiert" hätte. Es gibt einen ganz wesentlichen
Unterschied: Laster sind ein Abbau der Menschlichkeit. Tugenden sind ein
Aufbau der Menschlichkeit. Laster entstehen nicht durch mühsames Üben, sondern
durch ständiges Gehenlassen. Tugenden entstehen durch oft mühsames, geduldiges
Aufbauen, während Laster durch sich-gehen-Lassen und Abbauen entstehen.
Tugenden wachsen, wenn sie gepflegt werden, wenn sie bearbeitet werden, wenn
sie ständig gehegt werden. Laster wachsen durch Vernachlässigung wie Unkraut
in einem verwilderten Garten.
Die geduldige, zähe, ständige Arbeit an den Tugenden hat natürlich eine
gewisse Ähnlichkeit mit Dressur, doch ist sie alles andere als nur ein äußeres
sich Angewöhnen. Sicher, wenn man uns als Kinder beigebracht hat: "Sag
Danke!", hundertmal wiederholt: "Sag Danke!", dann ist das auch ein
Gewöhnungseffekt. Wenn man uns beigebracht hat, aufzustehen um einem älteren
Menschen Platz zu machen, zu grüßen, Höflichkeitsformen, alle diese äußeren
Formen sind Stützen. Wir brauchen auch solche äußeren Stützen, weil wir
Menschen aus Fleisch und Blut sind. Anerzogene gute Gewohnheiten sind wie ein
Skelett, das trägt, eine große Hilfe für das Zusammenleben. Es ist einfach
sehr viel angenehmer, wenn wir einander höflich begegnen, als wenn wir immer
unseren Launen freien Lauf lassen. Aber das sind noch keine Tugenden, das sind
gute Gewohnheiten.
IV.
Tugend ist mehr als gute Gewohnheit. Tugenden sind der innere Aufbau der
Person. Sie sind nicht etwas "Aufgesetztes", etwas Übergestülptes, sondern sie
sind innere Gestaltungskräfte der Person, nicht ein äußeres Korsett, das man
mir oder ich mir auferlegt habe oder angelegt habe, nicht ein äußerer Zwang,
den ich manchmal auch brauche. Die Tugenden sind vielmehr innere Prägungen,
nicht nur unseres äußeren Verhaltens sondern unseres Seins. Sie machen uns
gut. Hier gilt es, etwas ganz Wichtiges zu beobachten. Tugenden sind kein
umgeschnürtes Korsett, kein Zwangsverhalten. Aber sie sind auch nicht einfach
fertig. Sie sind nicht einfach da. Sie prägen sich nicht von selber aus, so
wie der menschliche Körper, auch nicht von selber, aber doch nach seiner
Eigengesetzlichkeit, wächst. Die Tugenden bedürfen der Pflege. Aber sie sind
grundgelegt in uns. Sie sind gewissermaßen keimhaft in jedem Menschen da, als
Anlage, die es zu entfalten gilt, oft durch Mühe, durch Überwindung, durch
manchen Schweiß. Aber wenn sie sich entfalten, dann ist es wie ein Aufblühen.
Dann wird unser Menschsein, wir dürfen es so sagen, ein schönes Menschsein,
ein wohltuendes.
Ich nehme ein Beispiel. Schon kleine Kinder haben, ich glaube mich selber
daran erinnern zu können, ein sehr genaues Gespür für Gerechtigkeit. Sie
reagieren sehr empfindlich, zum Beispiel, auf eine ungerechte Strafe. Ich kann
mich sehr gut erinnern an eine Strafe, eine sehr schwere Strafe, die ich als
gerecht empfunden habe und die auch gerecht war, die ich wirklich verdient
habe. Aber ich erinnere mich auch an Strafen, die ungerecht waren. Kinder
haben hier ein sehr feines Gespür für Unrecht und Recht. Das hat man ihnen
nicht andressiert. Das ist in uns da, keimhaft. Die Tugend der Gerechtigkeit
entsteht durch Pflege dieses Gespürs für Gerechtigkeit. Tugenderziehung heißt
deshalb immer: Entfalten dieser Keime, die in uns da sind. Das ist nun das
Entscheidende beim Wachstum der Tugenden: Erziehung zur Tugend ist immer
Erziehung zur Selbsterziehung. Es kann nicht nur von außen kommen. Zum
Beispiel, noch einmal dieses Empfinden für Gerechtigkeit, um dieses Empfinden
zu entfalten zur Tugend der Gerechtigkeit muss es dazu kommen, auch schon beim
Kind, dass es selber auch gerecht ist und nicht nur empfindlich reagiert, wenn
im Unrecht widerfährt, dass es selber lernt, dass das Tun des Gerechten eben
notwendig ist, richtig ist. Das kann bedeuten, das bedeutet meistens auch
einen Kampf mit sich selber, eine Überwindung, denn es gibt in uns wohl die
Anlage zur Tugend, aber es gibt auch die Neigung zum Bösen. Deshalb kann sich
dieser Keim nicht ohne Mühen und Kämpfe entfalten. Eine Erziehung, die auf
diesen Kampf verzichten will, wie die antiautoritäre Erziehung es versucht
hat, kann nicht gelingen, wie wir auch keinerlei Fertigkeiten, Tüchtigkeiten
erlernen können ohne Disziplin. Unsere Sportler, die jetzt Medaillen geerntet
haben, haben sehr viel Selbstbeherrschung, Selbstüberwindung, Disziplin
gebraucht, um ihr Können aufzubauen, um sich fit zu machen für diese großen
Leistungen.
Noch etwas Wichtiges. Wo dieser Aufbau gelingt, wo diese Keime der Tugenden
sich entfalten, werden sie zu aktiven Quellen eines guten menschlichen
Handelns. Im Katechismus steht eine sehr schöne Definition der Tugend, die ich
zu der des hl. Thomas hinzufügen möchte: "Die Tugend ist die beständige, feste
Neigung, das Gute zu tun" - eine Neigung, eine beständige, feste Neigung, das
Gute zu tun (KKK 1803). Tugend heißt deshalb, dass es nicht jedes mal einer
neuen, schweren Entscheidung bedarf, etwas Gutes zu wählen und zu tun, sondern
Tugend macht, dass das Tun des Guten mir zur Neigung wird, eine feste,
beständige Neigung hin zu diesem guten Tun. Das wird besonders deutlich in
dramatischen Situationen. Wenn ich gar nicht die Zeit habe zu überlegen: Wie
muss ich jetzt handeln?, wenn ich nicht jemanden um Rat fragen kann, wenn es
schnell zu handeln gilt, dann zeigt sich in solchen Momenten, ob ich die
feste, beständige Neigung habe, dass Gute zu tun. Dann kommt das Gute aus mir
heraus wie aus einer Quelle, nicht über den Verstand sondern sozusagen aus dem
Herzen, ganz spontan und treffsicher.
Alexander Solschenitzin hat im Archipel Gulag, diesem monumentalen Werk über
die sowjetischen Lager - er war selber jahrelang in einem solchen Lager - am
Schluss dieses riesigen Werkes die Frage gestellt: Warum bin ich auf der Seite
gewesen und nicht auf der anderen? Warum bin ich nicht ein KGBist, ein
Geheimdienstler, ein Unterdrücker geworden? Warum bin ich den Weg ins Lager
gegangen? In einer sehr eindrucksvollen Weise analysiert er, wie es eigentlich
dazu gekommen ist. Er sagt: Es waren immer wieder kleine Weggabelungen,
unmerklich in den Momenten, in denen er fast unbewusst das Gute gewählt hat
und nicht das Böse, ohne sich der Tragweite dieser kleinen Entscheidungen
bewusst zu sein. Diese Neigung zum Guten, die wir Tugend nennen - er meinte,
vielleicht kam sie auch einfach von seiner Erziehung, von seiner Großmutter,
wo immer her - ließ ihn in den schwierigen, dramatischen Momenten seines
Lebens der Versuchung widerstehen und das Gute wählen. Viele unserer
Entscheidungen fallen nicht durch bewusste Entschlüsse, sondern aus einem
gewissen Instinkt heraus. Wenn wir diese feste, dauerhafte Neigung zum Guten
haben, die wir Tugend nennen, dann wird spontan auch unser Entscheiden fast
natürlich von innen heraus in die richtige Richtung gehen.
Zum Abschluss dieses - zu langen - ersten Teils zwei zusätzliche
Beobachtungen. Wer Tugend erworben hat, hat sozusagen ein natürliches Gespür
für das Gute. Der hl. Thomas gebraucht gerne ein Beispiel. Er sagt, ein
Richter kann alle Gesetzestexte perfekt kennen, kann studiert haben über die
Fragen der Gerechtigkeit, aber er kann persönlich ein sehr ungerechter Mensch
sein. Vielleicht kommt er sogar auf theoretischem Weg zu einem gerechten
Urteil in seinem Arbeiten als Richter, aber er selber ist deswegen noch nicht
ein gerechter Mensch. Dem stellt der hl. Thomas einen ganz einfachen Menschen
gegenüber, der nicht studiert hat, der sich nicht auskennt in der
Gesetzesflut, der keine Moralphilosophie studiert hat, aber der ein
ausgeprägtes inneres Gespür für Gerechtigkeit hat und der durch langes Tun des
Guten und des Gerechten einen starken Spürsinn, eben jene Neigung zum Guten
entwickelt hat, die wir Tugend nennen. Nun sagt der hl. Thomas, ein solcher
Mensch kann gegebenenfalls gerechter urteilen als der Fachmann, weil er das
Gespür dafür hat. Sein Urteil kann treffsicherer sein als das des Fachmanns,
weil er selber gerecht ist durch die Tugend der Gerechtigkeit.
Ein zweites gilt es dazu zu beobachten. Im Katechismus heißt es: Die Tugenden
"verleihen dem Menschen Leichtigkeit, Sicherheit und Freude zur Führung eines
sittlich guten Lebens" - Leichtigkeit, Sicherheit und Freude (KKK 1804). So
wie man bei einem guten Handwerker, der sein Handwerk meisterhaft versteht,
den Eindruck der Leichtigkeit hat, der Sicherheit und auch der Freude, so ist
es beim tugendhaften Menschen. Wenn die sittliche Persönlichkeit aufgebaut
ist, dann tut man das Gute nicht mit Ächzen und Stöhnen, mit ständig
verbissener Selbstüberwindung, sondern mit Leichtigkeit und Freude. Bei großen
Künstlern hat man diesen Eindruck, ich denke an einen Film über Yehudi
Menuhin, den großen Geiger. Er hat daran erinnert, wie schwer seine Kindheit
war, wie er Tag für Tag üben musste, draußen die Kinder spielen hörte und sah.
Er musste üben. Aber dann ist sein Spiel geflossen aus einer strömenden,
strahlenden Leichtigkeit, die eben das Kennzeichen der Tugend ist.
V.
Nun bleibt mir nicht mehr viel Zeit zu der zweiten Frage: Was hat das
eigentlich alles mit christlicher Tugend zu tun? Das gilt doch für jeden
Menschen. Das stimmt, auch die heidnischen Philosophen, auch andere Kulturen
und Religionen kennen diesen Blick auf die Tugenden, die den Menschen erst
richtig zum Menschen machen. Was ist das besondere der christlichen Tugend?
Wir glauben in unserem christlichen Glauben, dass der Mensch nicht nur die
natürlichen Keime der Tugenden hat, sondern dass uns in der Taufe auch die
Keime der göttlichen Tugenden geschenkt wurden, dass in uns nicht nur die
natürlichen Tugenden gewissermaßen schlummern und auf Entfaltung warten,
sondern auch das göttliche Leben selbst, die göttlichen Tugenden, Glaube,
Hoffnung, Liebe. Wir glauben, dass uns in der Taufe und dann immer wieder
durch die Sakramente das göttliche Leben wie ein Keim eingesenkt wurde und
dass dieser Keim sich entfalten will und uns wirklich verwandeln. Ist einer in
Christus, dann ist er eine neue Schöpfung (2 Kor 5,17).
Eine kleine Brücke, eine kleine Hilfe um das deutlicher zu sehen: Die
Kirchenväter sagen, der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, jeder
Mensch. Das ist die Würde des Menschen, selbst bei den größten Lastern, selbst
bei den schlimmsten Verbrechen bleibt dem Menschen die Würde, die
unverlierbare Würde, Bild Gottes zu sein. Aber in der Genesis heißt es auch,
Gott habe den Menschen "nach seinem Bild ihm ähnlich" geschaffen (Gen 1,26).
Nun sagen die Kirchenväter ja, wir sind alle nach dem Bild Gottes geschaffen
und wir sind alle dazu berufen, Gott ähnlich zu werden. Erst in dem Maß, wie
dieses Bild sich entfaltet, Gott immer mehr anverwandelt wird, desto ähnlicher
werden wir Gott, desto mehr verwirklicht sich tatsächlich das Bild Gottes in
uns.
Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei machen uns Gott ähnlich. Ganz kurz ein
Wort dazu, ich werde versuchen, Sie nächstes Jahr, so Sie noch Geduld dazu
haben, ausdrücklicher zu behandeln, die drei göttlichen und die vier
Kardinaltugenden, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhaltung. Jetzt nur
ein kurzes abschließendes Wort. Die göttlichen Tugenden, sagt uns der Glauben,
die Glaubenslehre der Kirche, sind ein Geschenk, sind eine Gnade. Ich kann sie
nicht erwerben. Ich kann sie nur, wenn ich sie geschenkt bekommen habe,
pflegen und entfalten. Die Eltern wissen, sie können den Glauben vorleben, sie
können ihn erklären, sie können versuchen, ihn weiterzugeben, aber sie können
ihn nicht machen. Er bleibt auch in den eigenen Kindern Geschenk. Dennoch
nennen wir sie Tugenden, weil sie uns eigen werden. Ich glaube, ich hoffe, ich
liebe. Gott schenkt sie uns so, dass sie wie die natürlichen Tugenden
sozusagen eine Quelle in uns werden, aber nicht nur zum menschlichen
sittlichen Handeln, sondern zu einem Leben, das mit Gott in Verbindung ist,
das an Gott teilhat. Paulus sagt: "Christus wohne durch den Glauben in euren
Herzen" (Eph 3,17). Heute möchte ich abschließend auf zwei Besonderheiten
dieser göttlichen Tugenden hinweisen.
1. Der Katechismus sagt: "Die menschlichen Tugenden wurzeln in den göttlichen
Tugenden" (KKK 1812). Ist es nicht genau umgekehrt? Brauchen nicht die
göttlichen Tugenden eine gute, solide, menschliche Grundlage? Die christliche
Lebenserfahrung zeigt, dass beides zutrifft. Wir brauchen, um ein christliches
Leben zu leben, eine gute menschliche Grundlage. Aber umgekehrt zeigt das
christliche Leben, dass durch den Glauben, die Hoffnung und die Liebe auch die
menschlichen Qualitäten sich entfalten. Das werde ich nächstes Mal
thematisieren mit den Gaben des Heiligen Geistes, wie Glaube, Hoffnung und
Liebe uns auch im Menschlichen fester verwurzeln und stärken. Der Glaube
stärkt die Vernunft, macht uns hellsichtig, klarsichtig. Die Hoffnung gibt uns
die Kraft, die göttliche Kraft des Durchstehens von Widrigkeiten.
2. Am schönsten ist die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist, wie Paulus
sagt (Kol 3,14). Am deutlichsten sieht man es im Leben der Heiligen, die
gerade durch die göttlichen Tugenden sich in ihrem Menschsein erst richtig
entfaltet haben. Das ist am deutlichsten bei der Liebe selbst. Der hl. Thomas
sagt: Es gibt überhaupt keine Tugend ohne Liebe. Eine Klugheit ohne Liebe ist
vielleicht Schlauheit. Eine Gerechtigkeit ohne Liebe droht unbarmherzig zu
werden. Die Liebe ist das Vollmaß aller auch menschlichen Tugenden. Was wäre
alle unsere Gerechtigkeit, Tapferkeit, unser Maßhalten ohne die Liebe! Deshalb
sagt der hl. Thomas, die Liebe ist die Form aller Tugenden. Sie macht die
Tugenden erst richtig zu Tugenden; oder der hl. Paulus, wir haben es vorhin
gehört, sagt: "Sie macht alles vollkommen" (Kol 3,14).
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