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Katechesen
2001/2002
6. Jahresreihe - 3. Katechese, 18.11.01
Gewissen -
innere Stimme, die zum Guten ruft! |
Gewissen - innere Stimme,
die zum Guten ruft!
Lasst uns beten! Komm Heiliger Geist. Erleuchte unseren
Verstand, stärke unseren Willen, führe unser Gewissen, dass wir erkennen, was
gut ist, und die Kraft haben, es zu tun. Darum bitten wir durch Christus
unseren Herrn.
Amen.
Jeder muss seinem Gewissen folgen. Das ist offensichtlich. Und doch stellen
wir uns die Frage, ob das wirklich stimmt. Muss jeder seinem Gewissen folgen?
Franz Jägerstätter, der oberösterreichische Bauer, ist seinem Gewissen gefolgt
und hat, obwohl er eine Frau und drei Kinder zurückließ, sich für das Nein
entschieden, das Nein zu Hitlers Militärdienst, obwohl Millionen anderer diese
Pflicht auf sich genommen haben. Muss man immer seinem Gewissen folgen? Der
eine Attentäter, Mohammed Atta, vom 11. September 2001, dessen Bekennerbrief
man gefunden hat, hat offensichtlich betend und aus innerster Überzeugung
heraus diese Tat vorbereitet und sie mit erstaunlicher Perfektion
durchgeführt. Er ist offensichtlich seinem Gewissen gefolgt. Doch fragen wir
uns: Ist es nicht gewissenlos, Tausende unschuldiger Menschen umzubringen, nur
um der eigenen Idee zu folgen, auch wenn man noch so von dieser Idee überzeugt
ist?
Die Frage ist also: Was ist das Gewissen? Wie erfahren wir das Gewissen? Was
sagt uns der Glaube über unser Gewissen? Eines ist gewiss, das Gewissen ist so
etwas wie der Kompass des sittlichen Lebens. Die Frage, ob wir gut oder
schlecht handeln, hat sehr viel mit der Frage nach dem Gewissen zu tun.
I.
Gehen wir die Frage an: Was ist das, das Gewissen? Fangen wir an bei der
Sprache, denn die Sprache ist ein ganz feines Messinstrument, oft sagt uns die
Sprache vieles einfach dadurch, dass sie bestimmte Ausdrücke hat. Sie weist uns
auf Dinge hin, die in dem sensiblen Instrument der Sprache fein registriert
werden. Es gibt dazu ein herrliches Instrument, das ist der Duden, ein dickes
Wörterbuch. Wenn man da nachschaut unter dem Wort Gewissen, dann findet man
einige Stichworte. Ich nenne einige aus dem Duden. "Sein ärztliches Gewissen
lässt das nicht zu." Diese Redewendung klingt uns vertraut. Oder: "Dabei regte
sich sein Gewissen." Das heißt wohl, es kamen ihm Bedenken. Es steht dort auch:
"Ihn plagt sein Gewissen." Es wird das Wort "Gewissensbisse" genannt. Dieses
Wort wird so erklärt: "quälendes Bewusstsein, unrecht gehandelt zu haben". Wer
kennt das nicht, Gewissensbisse. Ich habe etwas versäumt zu tun, und nun "beißt"
mich mein Gewissen, es lässt mich nicht los, ich habe etwas versäumt, ich habe
etwas unterlassen. Ein anderes Stichwort aus dem Duden: "sich kein Gewissen aus
etwas machen". Ein weiteres: "gewissenlos sein". Das wird erklärt: "ohne jedes
Empfinden für Gut und Böse im eigenen Tun sein", eine wirkliche Katastrophe,
wenn ein Mensch ohne jedes Empfinden für Gut und Böse im eigenen Tun ist. Wenn
wir von einem Menschen sagen müssen, er ist gewissenlos, dann meinen wir damit,
dass ihm etwas ganz Entscheidendes im menschlichen Leben fehlt.
Gewissenlosigkeit empfinden wir als zutiefst unmenschlich. Ein weiters
Stichwort: "jemanden auf dem Gewissen haben". Das kann bedeuten, durch eigenes
Verhalten jemandes Unglück oder Tod verschuldet haben, jemanden auf dem Gewissen
haben. Ein weiteres Stichwort: "jemandem ins Gewissen reden". Wenn wir jemandem
ins Gewissen reden, dann appellieren wir an das Gespür für das Gute, erinnern
ihn an seine Verantwortung, wir versuchen ihn zu bewegen, eine Fehlhaltung
abzulegen. Wenn wir von "einem gewissenhaften Menschen" sprechen, dann meinen
wir jemand, auf den Verlass ist, der zuverlässig, genau eben gewissenhaft ist.
Das kann auch zu einem Übermaß führen. Der Duden nennt das Stichwort
"Gewissensskrupel", das heißt, wenn jemand zwanghaft die Vorstellung hat, er
habe etwas nicht recht gemacht, nicht genau genug, nicht gründlich genug,
Gewissensskrupel.
Ein weiteres Stichwort: "Das ist für mich eine
Gewissensfrage." Damit sagen wir, hier geht es nicht mehr nur um eine bloße
Sachfrage, ob man etwas so oder so machen soll. Hier geht es um eine ganz ernste
Frage, die mich in der Mitte meines Lebens betrifft. "Hier stehe ich, ich kann
nicht anders." Hier ist auch gefordert, dass man meine innerste Überzeugung
achtet, das ist für mich eine Gewissensfrage. Damit sage ich auch: Notfalls bin
ich bereit, die Konsequenzen zu ziehen, die Folgerungen, auch wenn sie für mich
negativ ausgehen. Anderes Stichwort: "Gewissensentscheidung". Was ist eine
Gewissensentscheidung? Das heißt, ich habe aus meiner innersten Überzeugung
heraus gehandelt. "Gewissenszwang" ist ein anderes Stichwort im Duden,
Gewissenszwang, jemanden so unter Druck setzen, dass er oder sie nicht anders
kann, als sich diesem Zwang, diesem Druck zu beugen. Wir empfinden das als etwas
sehr Schwerwiegendes, das Gewissen eines Menschen so unter Druck zu setzen, dass
es zum Gewissenszwang kommt. Es gibt die "Gewissensnot", dass man in eine
Konfliktsituation kommt, in der man nicht recht ein und aus weiß. Das kann zu
einem "Gewissenskonflikt" werden. Wenn ich zu etwas verpflichtet bin im
Berufsleben, dem ich in meinem Gewissen nicht zustimmen kann, kann das ein
Gewissenskonflikt werden. Noch ein Stichwort aus dem Duden:
"Gewissenserforschung". Der Duden schreibt hier sehr bezeichnend: "kommt aus der
katholischen Sprache und meint Vorbereitung auf die Beichte". - Ich hoffe, es
wird auch in anderen Kreisen als nur bei Katholiken Gewissenserforschung
betrieben und nicht nur bei den wenigen, die zur Beichte gehen. -
"Gewissensbildung" sei als letztes Stichwort genannt, Gewissensbildung, die
Pflege eines feinen, empfindsamen, feinfühligen Gewissens.
Wir sehen schon von diesem Zugang über den Duden, wie reichhaltig unsere Sprache
dieses Phänomen des Gewissens beschreibt. Aber was ist das? Was ist das
Gewissen?
II.
Ich darf eine Kindheitserinnerung erzählen. Sie gehört nicht unbedingt in die
Beichte, ich weiß nicht ob ich sie als Kind gebeichtet habe. Ich mag damals etwa
sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. In dem Ort, wo wir zu Hause waren, gab
es nahe bei unserem Haus eine Tischlerei. Beim Spielen sind wir oft an dieser
Tischlerei vorbei gelaufen. Dort lag natürlich viel Holz herum, wie das bei
einer Tischlerei üblich ist. Eines Tages bin ich, ich weiß nicht warum, aus mir
unerfindlichen Gründen, beim Vorbeigehen bei dieser Tischlerei, ich war alleine,
plötzlich auf die Idee gekommen, ich nehme mir da ein Brett mit und habe ein
Brett gestohlen, ein kleines Brett, völlig unbedeutend und wertlos. Aber ich
habe es gestohlen und bin mit diesem Brett davon gelaufen. Als ich zu unserem
Haus kam, hat mich die Panik gepackt: Was mache ich jetzt mit diesem Brett? Ich
habe es auf der Veranda versteckt und es hat mich den ganzen Tag furchtbar
gequält: Was mache ich mit diesem Brett? Dann habe ich es am späteren Nachmittag
heimlich wieder von der Veranda geholt und heimlich zur Tischlerei
zurückgebracht und wieder dort hingelegt, wo ich es gestohlen hatte.
Hat das schlechte Gewissen, das mich damals geplagt hat, wirklich etwas mit dem
Gewissen zu tun? Was war das? War es die Angst, entdeckt zu werden, die Angst
vor Strafe, die Angst vor der Schande, etwas zu tun, was man nicht tut, erwischt
zu werden bei etwas, das sich nicht gehört? Aber wenn es das war, warum tut man
das nicht? War das nur die damalige Mode in den frühen Fünfzigerjahren, dass man
nicht gestohlen hat? War das eine Spielregel der damaligen Gesellschaft? War es,
dass die Eltern einen so erzogen, oder sagen wir vielleicht besser gedrillt
haben, dass man so etwas nicht tut und dass deshalb das Gefühl ein sehr
unangenehmes ist, wenn man gegen dieses "man tut das nicht" verstoßen hat? Hatte
ich nur deshalb Angst, weil ich eben so erzogen war? War es vielleicht das
Gefühl, dass wir als "Zuagroaste", als Zugezogene in diesem Ort besonders
aufpassen mussten? Anders gesagt: Ist die Stimme des Gewissens nichts anderes,
als die Summe der Maßstäbe und Verhaltensregeln, die man uns anerzogen hat,
sozusagen eine Art Dressur? So wie man Hunde dressiert, so dressiert man auch
Kinder, dann bekommen sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie etwas gegen die
Dressurregeln tun. Ist das so etwas, wie dass man sich nicht wohl fühlt, wenn man
an einem Ort in einer nicht passenden Kleidung ist, wenn man in Bluejeans auf
den Opernball geht, oder ich weiß nicht welchen Vergleich wir brauchen sollen,
wo man sich einfach nicht wohl fühlt, weil man merkt, man verstößt gegen eine
Verhaltensregel der Umgebung?
Ist das Gewissen die Stimme, die uns zu einer bestimmten Zeit übliche
Verhaltensmuster vorschreibt? "Man tut das", oder "man tut das nicht". Wer gegen
solche "man tut das"-Regeln verstößt, der wird scheel angesehen, der fühlt sich
eben unwohl und das ist dann ein Gewissensbiss. Ist das Gewissen einfach das,
was der berühmte Wiener Psychologe Sigmund Freud das Über-Ich genannt hat, also
alles das, was mir an Erziehung anerzogen worden ist und was so über mir
schwebt, wie ein Zwang, wie eine Verpflichtung, die ich mir ins Innere
übernommen habe und die sich auch aus den Haltungen ergibt, die von mir erwartet
werden oder von denen ich glaube, dass die anderen sie von mir erwarten?
Natürlich ist das Gewissen reich an solchen Einflüssen. Vieles bestimmt unser
Gewissen mit: die Erziehung, der Zeitgeist, die Umwelt, die Ängste, die Zwänge,
die Begierden, die Wünsche, die Vorstellungen. In der Stimme des Gewissens reden
viele Stimmen mit. Aber was ist an diesen vielen Stimmen wirklich die Stimme des
Gewissens? Gibt es sie überhaupt in diesem Stimmengewirr? Was ist daran
Mitgerede anderer Stimmen und was ist die echte Stimme des Gewissens?
Kehren wir zurück zu dem gestohlenen Brett. Ich bin mir heute gewiss, wenn ich
darüber nachdenke, was damals passiert ist, dass sich hier in mir die Stimme des
Gewissens geregt hat, auch wenn manche andere Stimmen sich mit hineingemischt
haben, die Angst, entdeckt zu werden. Aber ist diese Angst, entdeckt zu werden,
nicht auch ein Zeugnis dafür, dass ich etwas getan habe, was in sich nicht gut
war? Es ist wirklich nicht gut, ein Brett zu stehlen. War diese Angst nicht auch
die Stimme dessen, der im Herzen des Menschen spricht: "Du sollst nicht
stehlen!" Das war nicht nur die damalige gesellschaftliche Meinung. Diese Unruhe
in meinem Herzen, in mir kam aus einer tieferen Quelle. Hier war eine Stimme
hörbar, die ich heute als Botin Gottes sehe. Das Gewissen ist der Bote Gottes in
unserem Leben. Damals, als Kind habe ich diese Stimme als einen laut drängenden
Befehl erlebt: Tu das nicht, bring das wieder in Ordnung!
III.
Nun können wir uns fragen, ich muss mich fragen, jeder von uns soll sich diese
Frage stellen: Ist diese Stimme, die damals dem Kind so klar gesprochen hat,
heute noch so klar? Kann diese Stimme übertönt werden? Man sagt, man kann das
Gewissen betäuben. Das Gewissen kann auch verwildern. Es kann durch eine enge,
ängstliche, zwanghafte Erziehung verbildet werden. Es kann durch Druck und Zwang
von Ängsten so überlagert werden, dass Skrupel, Zwangsvorstellungen an die
Stelle des Gewissens treten. Es kann durch eine oberflächliche Lebensweise
verflachen, wenn nur das Äußere gilt, wenn die Eltern und die Umwelt nur auf die
Geltung, den Glanz, den Erfolg, das Ansehen schauen, dann kann beim Kind das
Gewissen verflachen. Wenn das "in"-Sein wichtiger wird als diese innere Stimme,
dann kann sie abstumpfen. In den ehemals kommunistischen Ländern ist die
Verwüstung der seelischen Landschaft, wie man in den letzten zehn Jahren sehen
konnte, viel tragischer als die wirtschaftliche Verwüstung. In unseren
Nachbarländern galt fast sprichwortartig: "Stiehl, sonst wirst du bestohlen."
Das ganze System war darauf aufgebaut, dass jeder gestohlen hat. Jeder hat
versucht zu "organisieren", um sich so über Wasser zu halten. Diebstahl wurde
zur Lebensgewohnheit einer ganzen Gesellschaft. Alles wurde gestohlen und fast
jeder war genötigt zu stehlen. Und die Lüge, das ganze System war aufgebaut auf
die Lüge. Um zu überleben lernte man von früh an zu lügen. Der Bezug zur
Wahrheit wurde gründlich ge- oder gar zerstört. Welche Folgen das für das
Zusammenleben der Menschen hat, das sah man erst richtig nach dem Zusammenbruch
des Kommunismus. Es zerstört zutiefst die seelische Gesundheit der Menschen. Die
kommunistische Gesellschaft hatte etwas trostlos Graues. Das kam zutiefst aus
der Lüge, die wie ein dicker, dichter Schleier, Nebel über dem ganzen lag. Es
wird wohl lange dauern, bis diese Länder sich wieder davon erholt haben. Die
Erholung wird nicht von selber kommen, sondern nur durch den geduldigen Aufbau
der schlichten Tugenden des menschlichen Lebens, die das kommunistische System
untergraben hatte. Ich komme darauf gleich noch zurück bei der Frage der
Gewissensbildung.
Aber werfen wir jetzt auch eine Blick auf unsere westliche Gesellschaft. Viele
Jahre später nach dem Erlebnis mit dem Brett habe ich Psychologie studiert,
nicht sehr lange aber doch. Der damals vorherrschende Trend in der Psychologie
war, dass all das, was wir Gewissen nennen, sehr wenig Platz hatte in dem, was
man uns in der Psychologie beigebracht hat. Vorherrschend war die Auffassung,
dass der Mensch ein Bündel von Reaktionen und Reflexen ist, die man messen kann,
die man mit Statistiken erfassen kann. Der Mensch ist eine Maschine, die man so
oder so prägen, bestimmen, organisieren kann. Freiheit, Seele, Verantwortung,
Gewissen, das kam kaum vor in dieser Psychologie. Die vorherrschende Auffassung
war, der Mensch ist das Produkt seiner Umgebung, seiner Erziehung, seiner
Einflüsse. Aber es gab dann auch eine andere Auffassung, die mit dieser ersten,
materialistischen Auffassung sehr verwandt war. Man sah den Menschen mehr und
mehr und immer ausschließlicher als ein Wesen, das sich selber bestimmt und sich
selber das Gesetz gibt. Wer der Mensch ist, das bestimmt er selber, was er will
und wer er ist, was für ihn gut ist und was für ihn wichtig ist, was er für gut
oder für böse hält, das ist seine Sache. In dieser Sicht des Menschen ist das
Gewissen das, was mir wichtig ist, was mir wichtig ist, was ich für wichtig
halte, was ich für richtig halte, das, wonach ich mein Leben einrichten will.
In den letzten Jahrzehnten kam es deshalb verständlicherweise immer mehr zu
einem Konflikt mit der Kirche zwischen dieser Auffassung und der Auffassung der
Kirche. Wenn das Gewissen das ist, was ich bestimme, was mir persönlich das
richtige scheint, dann gilt natürlich, jeder hat sein Gewissen und handelt nach
seinem Gewissen. Manche mögen sich erinnern an den Konflikt der im Jahr 1968
ausbrach, als Papst Paul VI. die Enzyklika "Humanae Vitae" veröffentlicht hat,
für viele ein großer Konflikt auch bis hin zu einem Gewissenskonflikt. Mehr und
mehr sah es so aus, gerade in den Fragen der Lebensethik, damals in der Frage
der Empfängnisverhütung, dass es zwischen der Lehre der Kirche und dem Gewissen
des einzelnen einen Konflikt gibt, letztlich einen Graben, der nicht zu
überwinden ist. "Gewissen gegen Lehramt" wurde zu einer gängigen Formel. Ich
erinnere mich an viele heftige Diskussionen, wo gesagt wurde, die Kirche soll
sich nicht in die Gewissensentscheidung der Gläubigen einmischen. Wie kommt ein
anderer dazu, mir Vorschriften zu machen, wie ich mein Leben einzurichten habe?
Wie kommt die Kirche dazu, allgemeine Vorschriften zu machen, die im Leben
schwer verwirklichbar scheinen?
Was ist da das Gewissen? Ist das Gewissen meine Überzeugung? Ist das Gewissen
nur meine Überzeugung? Ist es nur das, was mir jetzt gerade einleuchtet, was mir
gewiss ist, jetzt? Oder ist das Gewissen eine Stimme, die gerade nicht von mir
stammt, die zwar in mir spricht, aber nicht von mir stammt? Ich glaube, wir
stehen heute vor der Frage, das Gewissen wieder tiefer zu verstehen. Vielleicht
gelingt es uns auch, diesen Konflikt zwischen Kirche, Lehramt und Gewissen etwas
tiefer zu sehen. Was ist das, wenn ich Gewissensbisse habe? Wenn mich mein
Gewissen plagt, anklagt? Wer spricht da zu mir? Ich habe Gewissensbisse. Da ist
doch jemand anderer, der zu mir spricht, oder eine andere Stimme, die mich
anspricht, die mich auffordert: Tu das nicht!, oder die mir sagt: Du hättest das
tun sollen, warum hast du es unterlassen? Was war damals die Angst im kindlichen
Herzen wegen dem gestohlenen Brett? Dass ich etwas Schlechtes getan habe, dass
es nicht richtig ist zu stehlen. Wie gut tat die Erleichterung, als ich das
Brett wieder zurückgebracht hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Das
Sprichwort sagt nicht zu unrecht: "Ein ruhiges Gewissen ist ein gutes
Ruhekissen."
Ich glaube, hier stoßen wir auf etwas ganz Entscheidendes. Das Gewissen ist
etwas ganz Persönliches, was nur ich höre, mein Gewissen. Und doch ist es nicht
etwas bloß Individuelles. Es ist etwas, dass mich öffnet. Die Stimme des
Gewissens ruft mich heraus aus meiner Verschlossenheit. Die Stimme des Gewissens
stößt eine Tür auf zu den anderen, zur Wirklichkeit, macht mir etwas bewusst,
das ich nicht gesehen habe, spricht mich an mit einer Wirklichkeit,die ich nicht
wahrhaben wollte. Mein Gewissen sagt mir: Du darfst nicht stehlen, auch wenn es
nur ein wertloses Brett ist. Aber wenn ich auf diese Stimme höre, dann weiß ich,
in jedem Menschenherzen gibt es diese Stimme. Deshalb kann ich zu einem anderen
sagen: Du sollst nicht stehlen! Ich kann ihm ins Gewissen reden, in sein
Gewissen, weil ich weiß, dass auch sein Gewissen ihm sagt: Du sollst nicht
stehlen!
IV.
Und nun das Wunderbare, Erstaunliche am Gewissen: Das Gewissen ist wie eine
feine Antenne, wie ein ganz feines Sensorium um die Wirklichkeit wahrzunehmen,
zu erkennen, was gut und richtig und wahr ist. Freilich unter einer Bedingung:
dass das Gewissen gebildet ist, dass es geschult wird. Nur ein feinfühliges
Gewissen ist ein feinfühliges Instrument. Ein versulztes, verfettetes, faules
Gewissen nimmt auch nichts wahr. Aber ein feinfühliges Gewissen ist ein
wunderbares Instrument, den anderen wahrzunehmen, offen zu sein für den Anruf,
der mir vom anderen kommt. Deshalb ist es so entscheidend, dass wir das Gewissen
bearbeiten, es schulen, verfeinern. Diese Arbeit dauert ein Leben lang. Es ist
schon richtig zu sagen: Wir müssen unserem Gewissen folgen. Aber was für ein
Gewissen ist das, dem ich folge? Ist es ein "Allerweltsgewissen" oder ist es ein
entwickeltes Gewissen? Habe ich ein entwickeltes Gewissen oder begnüge ich mich
mit dem oberflächlichen Beharren auf meinen bequemen Gewohnheiten?
Wenn wir sagen, ein Ereignis hat mich erschüttert, hat mein Gewissen
erschüttert, hat mich richtig wachgerüttelt, dann kann das der Anfang einer
tieferen Gewissensbildung sein. Wie geht das? Ich möchte vier Schritte oder vier
Dimensionen der Gewissensbildung kurz nennen.
1. Ich muss überhaupt einsehen, dass mein Gewissen unterentwickelt ist. Wir
sehen bei den Heiligen, wie fein ein Gewissen werden kann und wie viel es
wahrnehmen kann, wenn es wirklich entwickelt ist. Ich muss bereit sein, mich zu
bilden, mich bilden zu lassen. Ich muss bereit sein, mir ins Gewissen reden zu
lassen. Wenn ich selbstzufrieden, selbstgewiss bin, dann wird mich kein Anruf an
mein Gewissen erreichen. Aber wenn ich erschüttert bin durch einen Gewissensbiss
oder durch ein dramatisches Ereignis in meinem Leben, dann kann der Wunsch
aufbrechen, dass ich weitergehe und lerne. Es gibt keine bessere Schule als die
unseres Herrn und Meisters, der uns gesagt hat: "Lernt von mir" (Mt 11,29).
Jesus ist der Meister, wie wir auf die Stimme des Vaters hören lernen. Niemand
hat so den Vater gehört wie Jesus, bis in die kleinste Regung seiner Seele,
seines Herzens hinein alles vom Vater gehört. Die Schule des Gewissens ist daher
für uns die Schule Jesu. Jesus öffnet uns das Ohr und das Auge. Wie wunderbar
ist es, wenn man sich in die Gleichnisse Jesu hinein vertieft, wenn man sie auf
sich wirken lässt, wie Jesus uns lehrt zu schauen, zu beobachten, wie alles zu
einer Schule wird, um die Wirklichkeit wahrzunehmen. Die Gleichnisse Jesu sind
eine wunderbare Gewissensschule. Schaut, was uns die Natur lehrt, das Senfkorn,
das ein großer Baum wird, die Saat, die von selber wächst, alles, was Jesus über
die Pflanzung, über den Weingarten, über den Weingärtner, was er über die Tiere,
die Vögel des Himmels, was er über die Lilien des Feldes sagt und auch alles,
was er aus dem Berufsleben der Menschen beobachtet, alles das ist Schule der
Wahrnehmung der Wirklichkeit. Nur eine Wahrnehmung der Wirklichkeit kann auch
ein feines Gewissen fördern. Umgekehrt, ein feinfühliges Gewissen macht
klarsichtig zur Wahrnehmung der Wirklichkeit.
2. Mein Gewissen wird in dem Maß feinfühlig sein, wie mein Leben in Ordnung ist.
Ich muss um Ordnung und Disziplin in meinem Leben kämpfen, damit dieses Organ
des Gewissens funktionieren, wirken kann. Die einfachen Tugenden des Alltags
machen uns feinfühlig, Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit, Selbstüberwindung,
Geduld, Diskretion, Demut - alles das entwickelt das Gewissen, macht es wach und
wahrnehmungsfähig.
3. Wenn ich mein Gewissen will, mich nicht mit einem "Allerweltsgewissen"
zufrieden gebe, dann werde ich Lehrer suchen, Menschen, die mir Vorbild sind,
Menschen, die mir durch ihr Leben, durch ihr Wort und ihre Erfahrung Wegweisung
geben können, "Lebemeister", die Heiligen. Oft sind es ganz einfache Menschen,
die unsere besten Lehrmeister sind für ein feinfühliges Gewissen. Dazu gehört
auch die Lehre der Kirche. Dieser Konflikt zwischen Gewissen und Lehre der
Kirche löst sich in dem Maß, wie wir bereit sind, der Lehre der Kirche mit
Vertrauen entgegenzugehen. Das heißt nicht, dass mir alles sofort und in jeder
Hinsicht einsichtig ist. Aber ich muss zumindest den Vertrauensvorschuss
haben, dass ich etwas lernen kann. Vielleicht steckt in dieser oder jener Lehre
der Kirche eine Weisheit, die ich noch nicht erfasst habe, aber ich will es
zumindest nicht ausschließen, dass sie mir einmal einleuchtet. Der Papst ist
nicht der Herr über unser Gewissen, niemand ist der Herr über unser Gewissen,
kein Mensch, nur Gott ist der Herr unseres Gewissens. Aber der Papst ist Herold
des Gewissens, Bote des Gewissens. Manchmal hat man den Eindruck, dass die
Außenstehenden, die Fernstehenden besser spüren, dass der Papst wirklich Herold
des Gewissens ist in der ganzen Welt. Er hat dazu den besonderen Auftrag des
Herrn und den besonderen Beistand des Heiligen Geistes, um unser Gewissen
anzusprechen und ihm den Anspruch Gottes in Erinnerung zu rufen. Wenn ich nicht
bereit bin, mich vom Wort Gottes anrufen zu lassen, dann werde ich wohl auch mir
schwer tun, mich von der Lehre der Kirche ansprechen zu lassen. Dann besteht die
Gefahr, dass ich meine Wünsche und meine Vorstellungen für mein Gewissen halte.
Dann sind wir vielleicht wirklich bei der Täuschung, die manche Psychologen für
das Gewissen halten, dass es nichts anderes ist, als die Vorstellungen und
Wünsche, die eben in der Gesellschaft da sind.
4. Gott spricht zu uns, zu unserem Gewissen durch Ereignisse, durch Ereignisse
in unserem Leben, in unserer Umgebung, in unserer Welt. Sicher war der 11.
September 2001 ein solches Ereignis, das unser Gewissen wachrütteln soll. Was
will Gott uns sagen? Was sagt er mir durch eine Krankheit, durch eine Prüfung?
Was sagt er mir durch eine Schuld? Gestern bin ich der Autorin des Buches "Ich
nannte sie Nadine. Rund um die Problematik vor und nach dem
Schwangerschaftsabbruch" (Wien 2001), Karin Lamplmair, begegnet, eine junge
Mutter, sie hat zwei Kinder und das dritte hat sie sich nehmen lassen durch eine
Abtreibung. Nach diesem Ereignis ist sie in eine tiefe Depression verfallen. Sie
hat einen Selbstmordversuch gemacht und auf einem langen und schwierigen Weg,
auf einem gnadenvollen Weg, auf dem die kleine Theresia auch eine wichtige Rolle
gespielt hat, ist sie zum Glauben gekommen und hat heraus gefunden aus ihrer
Depression und aus ihrer Verzweiflung, dass sie sich ihr Kind, ihr drittes Kind
hat nehmen, töten lassen. Sie hat es Nadine genannt. Sie hat begonnen, den
Ärzten ins Gewissen zu reden, indem sie einfach ihre Geschichte erzählt hat. Sie
hat das Tagebuch ihrer Erfahrung niedergeschrieben, viele haben darauf reagiert.
Sie hat eine Fülle von Zeugnissen zusammengestellt. Gestern hatte ich die Freude
sie kennen zu lernen und kann sie nur ermutigen auf diesem Weg. Was Karin erlebt
hat, ist Gewissensbildung. Durch ein dramatisches Ereignis in ihrem Leben, eine
schwere Schuld, die sie fast in die Verzweiflung und in den Selbstmord getrieben
hätte, hat Gott sie zu einer Umkehr geführt. Zur Bildung des Gewissens gehört
ganz entscheidend die Erfahrung der Gnade, denn was uns das Gewissen zeigt, das
könnten wir nicht ertragen, wenn wir nicht der Barmherzigkeit Gottes begegnen.
Wenn nur unser Gewissen uns anklagt, dann können wir das nicht ertragen.
Vielleicht können viele Menschen deshalb die Stimme ihres Gewissens nicht
zulassen, weil sie nicht wissen von der Gnade, weil sie nicht wissen, wie sehr
Gott sie liebt. Erst wenn wir das erfahren, dann kann mein Gewissen mir wirklich
alles sagen, dann kann ich es frei und offen sprechen lassen, denn ich weiß,
dann ist nicht mehr nur mein Gewissen mein Richter, das mich verurteilt, sondern
da ist einer, der mich anschaut und mich nicht verurteilt. Du, Herr, bist mein
Richter, nicht mein Gewissen, das mich anklagt. "Selbst wenn unser Herz uns
anklagt, Gott ist größer als unser Herz" (vgl. 1 Joh 3,3).
V.
Ich komme zum Ausgang zurück: Die Attentäter von New York glaubten, so handeln
zu müssen. Sie sind ihrem Gewissen gefolgt. Muss man immer dem Gewissen folgen?
Ich glaube, wir können jetzt sagen: Ja, man muss immer dem Gewissen folgen. Aber
ich muss immer mit bedenken, mein Gewissen kann sich irren. Mein Gewissen kann
nicht genügend erleuchtet sein, es kann fehlgeleitet sein. Zweitens muss ich
wissen, ob ich wirklich nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Ich muss
mich bilden, mich informieren, ich muss mir die Dinge sagen lassen. Drittens
kann mir mein Gewissen eines nie sagen, etwas was gegen die Grundregeln der
menschlichen Sittlichkeit verstößt. Wenn mir mein Gewissen sagt, dass ich
Unschuldige umbringen muss, dann kann der Spruch meines Gewissens nicht richtig
sein.
Deshalb muss ich immer bei meinen Gewissenskonflikten fragen:
1. Handle
ich nach der goldenen Regel, was ihr wollt, dass die andern euch tun, das müsst
auch ihr ihnen tun?
2. muss ich immer bedenken, der Zweck heiligt nicht die
Mittel und es ist nie erlaubt, Böses zu tun um Gutes zu erreichen.
3. Ich darf
aus Gewissengründen mein Leben hingeben, ich darf nicht aus Gewissensgründen
anderen Menschen, unschuldigen Menschen das Leben nehmen. Ich gehe jetzt hier
nicht auf die Frage der Gewaltanwendung im Kriegsfall ein, das wäre ein eigenes
Kapitel.
Zum Schluss. Das christliche Bild des Gewissenshelden ist nicht der Terrorist,
sondern der Märtyrer. Thomas Morus, der große Kanzler Englands, hat in langem
Ringen die Gewissensentscheidung getroffen, den Eid auf König Heinrich VIII.
nicht abzulegen und hat dafür den Tod in Kauf genommen. Franz Jägerstätter ist
seinem Gewissen gefolgt. Das sind unsere Vorbilder. Sie folgten ihrem Gewissen,
das sie in langen Kämpfen, oft in der Dunkelheit des Glaubens, in einem
intensiven Ringen geschult und gebildet hatten und das ihnen den richtigen Weg
gezeigt hat.
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