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Katechesen
2001/2002
6. Jahresreihe - 1. Katechese, 23.09.02
"Christ, erkenne deine
Würde"
Das Fundament der christlichen Moral |
"Christ, erkenne deine
Würde" - Das Fundament der christlichen Moral
Lasset uns beten! Barmherziger Gott, komm unserm Tun und
Nachdenken mit deiner Gnade zuvor und begleite es, damit alles, was wir
beginnen, bei dir seinen Anfang nehme und mit deiner Hilfe vollendet werde.
Darum bitten wir dich durch Christus unsern Herrn. Amen.
Mit Freude beginne ich und begrüße Sie zu dieser neuen Serie von Katechesen,
die in diesem Arbeitsjahr 2001/02 den Fragen der christlichen Moral gewidmet
sein soll, genauer den Grundlagen, dem was das menschliche sittliche Handeln
eigentlich zu einem sittlichen macht, zu einem guten.
I.
Beginnen wir ganz einfach mit dem Wort "Moral". Für viele Menschen hat das Wort
Moral vor allem einen negativen Beigeschmack. Es erinnert an Verbote und Gebote,
"du darfst nicht ..." und "du sollst ..." Und das stimmt natürlich auch, denn
sehr vieles an der Moral hat mit Verboten und Geboten zu tun. Wenn wir von
Verkehrsmoral sprechen, dann meinen wir eben ein korrektes Verhalten im
öffentlichen Verkehr. Wenn wir von öffentlicher Moral sprechen, dann hat das
sehr viel zu tun natürlich mit "du musst ..." und "du darfst nicht ...": Du
musst Steuern zahlen, du darfst sie nicht hinterziehen. Du musst dich an die
Verkehrsregeln halten und darfst sie nicht überschreiten. So ist es eigentlich
in fast allen Lebensbereichen, dass es Dinge gibt, die eben verboten sind, und
andere, die geboten sind. All das bildet einen umfassenden Bereich von Regeln,
an die wir uns halten müssen, wenn das Leben halbwegs erträglich sein soll.
Daran geht kein Weg vorbei. Vieles daran ist natürlich auch Zwang.
Wahrscheinlich würden wir keine oder sehr wenig Steuern zahlen, wenn wir nicht
wüssten, dass wir dafür bestraft werden, wenn wir sie nicht bezahlen. Und
wahrscheinlich würde mancher schneller fahren, als es erlaubt wäre, wenn er
nicht wüsste etc. Und mit dem Alkoholkonsum beim Autofahren ist es ähnlich. Die
Furcht vor möglichen Sanktionen, möglichen Strafen ist ein wichtiges Mittel, um
uns im Rahmen des Anständigen und Ordentlichen, dessen zu halten, was eben für
das menschliche Zusammenleben notwendig ist. Ein ordentliches Maß an
öffentlicher Moral, das hat sehr viel auch mit Zwang, mit vorgeschriebenen
Forderungen zu tun. Dort, wo es solche Regeln nicht gibt, dort wird das
Zusammenleben sehr schnell zur Qual.
Ich erinnere mich an eine Stadt in Südamerika, die ich besucht habe, Pedro Carvo
in Ecuador, 40.000 Einwohner, zwei Priester aus unserer Diözese arbeiten dort
als Seelsorger. Die Bevölkerung hat die Polizei vertrieben, weil sie dermaßen
korrupt war, dass die Bevölkerung zurecht geglaubt hat, sie lebt besser ohne
diese Polizei als mit ihr. Das hat natürlich auch zur Folge, dass Diebstahl und
Mord an der Tagesordnung sind und dass jeder, der es irgendwie kann, bewaffnet
ist um sich selber zu verteidigen. Welches Privileg, dass wir in einem Land
leben dürfen, in dem öffentliche Sicherheit gegeben ist - bitte das immer zu
bedenken, wenn wir versucht sind, über Österreich zu raunzen.
Viel an der Moral ist also Pflicht, "du musst" und "du darfst nicht". Jeder weiß
aus eigener Erfahrung oder aus Beobachtung, dass es für Kinder sehr viel an
Lernen auf diese Weise gibt. Wir müssen lernen, als Kinder und natürlich auch
immer noch als Erwachsene. Oft genug sind es diese Schutzmauern von Verboten und
Geboten, die uns davor bewahren, Unsinn zu machen, die uns vor den eigenen
Gefährdungen schützen und natürlich auch vor denen der anderen. Wie leicht
lassen wir uns von Leidenschaften treiben und wie wichtig ist es, dass es
Grenzpfähle, Grenzmarkierungen gibt, die uns einschränken. Aber das bringt
natürlich mit sich, dass das Wort Moral einen recht negativen Beigeschmack hat,
als etwas, das uns einengt, das uns wie ein Korsett die Freiheit raubt. So hat
das Wort Moral vielfach auch einen etwas lustlos und freudlos klingenden
Nebenton.
II.
Nun, nach diesem ersten Blick auf das Wort Moral mag man sich die Frage stellen:
Tun wir eigentlich das Gute nur deshalb, weil wir dazu gezwungen werden, weil
uns letztlich nichts anderes übrig bleibt, als uns halbwegs anständig zu
benehmen? Vermeiden wir das Böse nur deshalb, weil wir Angst haben vor den
negativen Folgen, vor Strafen, Sanktionen? Sicher ist es immer wieder auch das.
Da wir Menschen sind, im Glauben sagen wir erbsündlich geprägte Menschen, die
wissen, dass wir eben auch zum Bösen geneigt sind, bedürfen wir dieser Grenzen,
die uns daran hindern, Fehler zu begehen. Angst vor Folgen von Fehlverhalten,
das hat schon manchen und wohl auch uns selber oft davon abgehalten, etwas Böses
zu tun, und hat uns geholfen, etwas Gutes zu tun. Oft tun wir das Gute einfach,
weil es von uns verlangt ist. Wir müssen uns anständig benehmen. Die Stewardess
im Flugzeug muss freundlich sein. Wenn sie es nicht ist, verliert sie ihren Job.
Ob sie jetzt darauf Lust hat, zu den Fluggästen freundlich zu sein oder nicht,
da wird sie nicht viel gefragt, ob es ihr jetzt Spaß macht zu lächeln, sie tut
es, es ist ihre Pflicht und eine unfreundliche Stewardess ist nicht sehr lange
Stewardess. Noch einmal, so sieht es aufs erste gesehen aus, als käme es bei der
Moral vor allem auf diesen äußeren Rahmen an, das Müssen und das Nichtdürfen.
Aber, wenn wir näher hinschauen ist das natürlich nicht alles. Es kann ja
durchaus auch sein, dass die Stewardess wirklich freundlich ist, dass sie es
nicht nur tut, weil sie es muss, vielleicht auch deshalb und das hilft ihr an
Tagen, wo sie grantig ist, eben auch doch sich zu überwinden und freundlich zu
sein, aber vielleicht tut sie es auch, weil es ihr Freude macht, weil es etwas
Positives ist, freundlich zu sein.
Was macht es eigentlich aus, wenn wir sagen: Das ist ein gütiger Mensch? Meinen
wir damit jemand, der durch äußeren Zwang, durch äußere Notwendigkeit freundlich
zu sein hat und es sozusagen notgedrungen ist? Oder meinen wir nicht, wenn wir
sagen, jemand ist ein gütiger Mensch, einen Menschen, dem die Güte von innen her
aus den Augen und aus dem Herzen, aus seinem ganzen Wesen leuchtet? Wir nennen
erst so jemanden einen wirklich gütigen Menschen, wenn wir spüren, bei dem ist
die Güte etwas Inneres, das ist eine Qualität seines Lebens. Wenn wir so
jemandem begegnen, dann spüren wir auch in uns ein Echo, dass es gut ist, bei so
einem Menschen zu sein. Es tut uns einfach gut, mit gütigen Menschen zusammen zu
sein, wie es sehr mühsam sein kann, mit grantigen Menschen oder gar mit
verbitterten Menschen zusammen zu sein. Spontan empfinden wir es als
menschlicher, wenn jemand von innen heraus freundlich ist und nicht nur einfach
zwangsweise. Wenn man spürt, das Lächeln, das kommt jetzt nicht wie von einer
Maske, die man berufsmäßig aufsetzt, sondern das kommt aus dem Herzen. Wir sind
sicher schon solchen Menschen begegnet. Dann kommt auch der Wunsch auf, so zu
sein. Dann spüren wir, das hat etwas zu tun mit einem gelungenen Leben. Ein
solcher Mensch ist menschlicher als ich vielleicht mich selber erlebe, der ich
so meinen Schwankungen ausgesetzt bin, und ich möchte auch so sein, wie dieser
Mensch. Es zieht mich hin, mich darum zu bemühen, einen Weg zu suchen, auch aus
dem Herzen heraus gütig zu sein und nicht nur aufgezwungener maßen.
Aber damit ist eine weitere Einsicht verbunden, die sehr nüchterne Einsicht,
dass das nicht automatisch geht. Natürlich gibt es Menschen, die ein fröhliches
Gemüt haben, denen es leichter fällt freundlich zu sein als anderen. Wer ein
schwermütiges Gemüt mitbekommen hat, vielleicht geerbt hat, der wird sich mehr
bemühen müssen um Freundlichkeit als jemand, dem das gewissermaßen in die Wiege
gelegt ist. Aber wir merken, es gibt so etwas wie ein Bemühen darum, ein
Arbeiten daran, dass das Leben menschlicher wird, dass es gelingt. Es gelingt
offensichtlich nicht von selber. Die Tiere haben da das Leben etwas einfacher,
sie haben es mitbekommen.
Eine kleine Katze, die auf die Welt kommt, muss nicht sehr viel lernen von der
Katzenmutter, sie krabbelt gleich los und ist sehr schnell selbständig. Sie muss
auch nicht lernen, wie sie Katze wird, das hat sie "programmiert", das trägt sie
in sich, sie hat ein von ihren Instinkten, von ihrem Katzesein geleitetes
Verhalten. Und es gelingt ihr sozusagen mühelos, Katze zu sein. Uns gelingt das
Menschsein nicht mühelos. Bei uns ist es anders, wir sind vom ersten Moment
unseres Lebens auf dieser Welt angewiesen auf enorm viel Hilfe. Ein
preisgegebenes Kind kann alleine nicht überleben. Schauen wir uns ein
Neugeborenes an, das ist ganz anders als bei einer kleinen Katze oder einem
kleinen Hund, bei dem stellen wir uns nicht die Frage: Was wird einmal aus
deinem Leben?, bei einem Menschenkind schon, da stellen wir uns die Frage: Was
wird einmal aus dir werden? Wie wird dein Leben aussehen? Wie wird es gelingen?
Oder wird es misslingen? Was wirst du selber aus dir machen? Was werden andere
aus dir machen? Wirst du ein guter Mensch werden? Alle diese Fragen sind da,
wenn man ein Kind zur Taufe trägt. Vielleicht tragen auch deshalb viele, die
selber aus der Kirche ausgetreten sind, ihre Kinder dennoch zur Taufe, aus
diesem Wissen heraus, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass das Leben dieses
Kindes gelingt. Was für Wege wirst du gehen? Was wird dir widerfahren in deinem
Leben? Aber auch: Was wirst du aus dem machen, was dir widerfährt? Wie wirst du
mit Glück und Unglück umgehen? Auch Hitler war einmal ein solches Neugeborenes
und auch Mutter Theresa war so ein neugeborenes Kind. War das jetzt einfach
Schicksal, dass das Leben des einen in diese Richtung gegangen ist und das Leben
von Mutter Theresa in so eine ganz andere Richtung? War das in den Sternen
vorprogrammiert, vorgezeichnet? Warum schaudert uns vor dem Lebensweg des einen,
und warum sind wir so dankbar für den Lebensweg der anderen? Warum stimmt es
unser Herz freudig, wenn wir an Mutter Theresa denken? Warum betrachten wir ihr
Leben als geglückt, warum ein anderes als Irrweg, als erschütterndes Scheitern
eines menschlichen Lebensweges?
III.
Damit sind wir bei der Frage: Was macht eigentlich ein geglücktes Leben aus? Was
ist das: geglückt? Was ist das Glückliche an einem geglückten Leben? Damit sind
wir bei der Urfrage der Menschheit. Aristoteles, der große griechische
Philosoph, sagt, und ich glaube es ist schwer, diesem Satz zu widersprechen: Wir
wollen glücklich sein. Jeder Mensch will glücklich sein, oder zumindest
glücklich werden, wenn er unglücklich ist. Und wir wollen glücklich bleiben. Wir
wollen nicht nur ein paar Minuten lang glücklich sein, sondern wir wollen, dass
das dauert. Niemand richtet sich gerne im Unglück ein. Wie werde ich also
glücklich? Das ist die große Frage an die Moral, und damit sind wir bei einem
großen Streit unter den Weisen der Moral: Geht es im sittlichen Leben um das
Glück oder geht es um die Pflicht? Geht es darum, dass ich das Gute tun muss
oder geht es darum, dass ich das Glück suchen darf?
Ich erinnere mich an eine Amerikanerin, sie ist schon gestorben. Ihre
Großmutter, die schon lange gestorben ist, hat sie genötigt, Klavier zu lernen.
Und sie hat es gehasst, wie es oft Kindern geht, wenn sie ein Instrument lernen
müssen. Mit vierzehn hat sie daran Spaß bekommen, da hat die Großmutter, die
eine strenge Puritanerin war, es ihr verboten, denn man tut nicht etwas, das
einem Spaß macht. Was ist das richtige Maß für die Sittlichkeit: die Pflicht
oder das Glück? Diese Frage wird uns immer wieder beschäftigen, und ich hoffe,
dass wir sehen werden, dass es kein Gegensatz ist. Auf jeden Fall sagen die
alten heidnischen und auch die alten christlichen Meister, dass das Glück
irgendwie der Maßstab für das richtige Leben ist. Die große Frage ist nur: Was
ist wirklich Glück? Worin besteht es? Es gibt vieles, was uns im Moment Spaß
macht, was uns unterhält, was uns vielleicht sogar Freude macht und wo wir dann
doch nach einiger Zeit merken, das war noch nicht das Glück. Es freut uns, wenn
wir anerkannt sind und Ehre genießen. Trotzdem merken wir mit der Zeit, das
Glück kann nicht darin bestehen, dass ich Ehren und Auszeichnungen bekomme.
Viele suchen das Glück im Reichtum, und es ist verständlich, dass es einem in
vieler Hinsicht einfach besser geht, wenn es einem materiell wohl geht, als wenn
es einem materiell schlecht geht. Und doch, wir wissen, wie schnell das weg sein
kann und wie sehr das Glück alleine nicht im Geld liegen kann. Und so bewegt
sich die Philosophie der frühen Meister und auch die christliche Philosophie
immer wieder um diese Frage: Was macht uns eigentlich glücklich? Sicher ist, das
alle nach Glück streben.
Ein ganz einfaches Beispiel: Schauen wir die Werbung an! Wer würde in der
Werbung versuchen, für eine Ware zu werben, indem er sagt: Das macht sie
unglücklich? Es gab in den siebziger Jahren ein berühmtes Buch eines bekannten
amerikanischen Werbestrategen, Ernest Dichter hieß er, "Die Strategie der
Wünsche". Wer etwas anpreisen will in der Werbung, ob das jetzt Zigaretten sind
oder Unterwäsche, Waschmittel oder eine Lebensversicherung oder Lotto-Toto oder
auch Reli - das ist kein Getränk, sondern das ist Religionsunterricht, es läuft
nämlich zur Zeit eine, wie mir scheint ganz gelungene, Werbekampagne für den
Religionsunterricht - immer geht es darum, den Betrachter, den Konsumenten
dieser Werbung davon zu überzeugen, dass er, wenn er das erwirbt, Glück erwirbt.
Es geht also darum, die Wünsche auf das hin zu richten, was man an den Mann
bringen, was man verkaufen will. Man will offensichtlich immer glücklich werden.
Die Kunst der Werbung ist, dieses Glücksverlangen auf das zu bewerbende Objekt
hin zu lenken und zu zeigen, dass es Glück verspricht. Alle streben nach Glück.
Aber dieses Streben stößt auf viele Hindernisse, der Mangel an Geld, wenn man
glaubt, dass Geld glücklich macht, der Mangel an Macht, an Erfolg. Aber auch die
Moral selber scheint immer wieder und überall Barrieren aufzurichten, die mir
sagen: Das darfst du nicht! Das sollst du nicht! So sieht es, noch einmal, so
,aus als wäre die Moral der große Spielverderber bei der Suche nach dem Glück.
So empfinden es Kinder oft, wenn die Eltern ihnen Vorschriften machen, wenn die
Lehrer verlangen, dass man etwas lernt. Das sieht nicht nach Glück aus. Die
berühmte Geschichte vom Lebertran, den man uns eingeflößt hat als Kinder - heute
werden Kinder nicht mehr damit traktiert: Für jeden Löffel Lebertran bekam man
zehn Groschen, das war damals schon etwas. (Wenn die Flasche leer war, dann
wurde mit dem ersparten Geld eine neue Flasche Lebertran gekauft.)
Müssen wir nicht die Frage umgekehrt stellen: Was macht glücklich? Worin besteht
beständiges Glück, ein Glück, das ich nicht morgen bereuen muss, sondern das
mein Leben erfüllt und das sogar die letzte Probe besteht, nämlich den Tod, das
auch der Tod nicht zerstören kann. Nun wissen wir alle aus Erfahrung, dass nicht
alles, was Spaß macht auch glücklich macht. Das heißt nicht, dass Spaß nicht
erlaubt ist, aber wir wissen, dass dauerhaftes Glück immer auch etwas zu tun hat
mit Opfer, Mühen und Leiden, nicht nur aber auch. Wenn wir von einer glücklichen
Ehe sprechen, dann meinen wir sicher nicht eine Ehe, in der es immer spaßig
zugeht. Das Glück hat seinen Preis, aber es gibt es. Es gibt die glückliche Ehe.
Das heißt aber sicher nicht, dass es eine einfache Ehe ist. Die Sehnsucht, die
in unserm Herzen ist, dass wir glücklich werden, die uns angeboren ist, die wir
mit auf die Welt bringen, diese Sehnsucht kann doch letztlich nicht vergeblich
sein. Das glauben wir als Christen, wir glauben, dass Gott dieses Verlangen nach
Glück in das Menschenherz gelegt hat, nicht aus Sadismus, aus Bosheit, so wie es
in dem griechischen Mythos ist, im Mythos von Sysiphus, der immer wieder einen
Stein hinauf wälzen muss, und wenn er gerade oben angelangt ist, rollt der Stein
wieder herunter. Nein, Gott hat uns nicht dieses Verlangen nach Glück ins Herz
gelegt, um uns zu quälen mit vergeblicher Mühe.
IV.
Von den vielen, vielen Predigten, die ich gehört habe als Kind, als
Jugendlicher, muss ich gestehen, ich kann mich an nichts daran erinnern, was
gesagt worden ist. Das ist nicht sehr ermutigend für die Prediger. Vielleicht
ist manches im Unterbewussten geblieben, vielleicht hat manches auch aus dem
Unterbewussten in mein Leben prägend eingewirkt. Ich kann mich aus der ganzen
Kinderzeit nur an einen einzigen Satz unseres Pfarrers erinnern. Obwohl wir
unseren Pfarrer sehr geliebt haben, und ich erinnere mich gut an das Gefühl, das
von ihm ausging, wenn er hoch oben auf der Kanzel stand - damals predigte man
noch von der Kanzel - es war das Gefühl, dass von dieser Kanzel Wohlwollen und
Liebe auf uns herunter geströmt ist. Aber an einen Satz kann ich mich erinnern,
der wie ein isolierter Stein herausragt aus dem Vergessen. Einmal hat unser
Pfarrer gesagt: "Gott will, dass wir glücklich werden." Diesen Satz habe ich mir
gemerkt. Warum gerade diesen? Gott will, dass wir glücklich werden.
"Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor
... Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit
du lebst, du und deine Nachkommen" (Dtn 30,15.19). Dieser Satz steht im Buch
Deuteronomium, im fünften Buch Mose, ganz am Schluss, wo Gott noch einmal seinem
Volk Leben und Tod, Glück und Unglück vor Augen stellt. Wähle das Leben! Wähle
das Glück! Damit sagt aber Gott auch seinem Volk: Wir müssen wählen. Wir müssen
uns entscheiden und es hängt von der richtigen Wahl ab, ob wir Glück oder
Unglück, Leben oder Tod ernten. Und im folgenden, in diesen Katechesen wird uns
in diesem Jahr die Frage beschäftigen: Wie wähle ich das Leben? Wie geschieht
das Schritt für Schritt auf meinem Lebensweg? Die biblische, jüdische und
christliche Moral versteht sich als Wegweisung zu einem glücklichen Leben. Gott
will, dass wir glücklich werden. Damit wir diesen Weg finden und diesen Weg
gehen können, gibt uns Gott Wegzeichen, Wegmarken und Hilfen. Im folgenden wird
immer wieder von diesen Wegmarken die Rede sein.
Zwei seien zuerst genannt: Gott gibt uns Wegweisung durch seine Gebote. Jetzt
bekommt das Wort Gebot und natürlich auch Verbot gleich einen anderen Klang:
Gott weist uns den Weg zum Glück. Gott will uns nicht einen Weg zur Freude
absperren durch Verbote und Gebote, sondern im Gegenteil, er sagt uns: Geh
diesen Weg oder geh diesen Weg nicht, denn dieser Weg führt zum Glück und jener
führt zum Unglück. "Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich
dich heute verpflichte, hörst, indem du denn Herrn, deinen Gott liebst, auf
seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest,
dann wirst du leben", sagt der Herr in demselben dreißigsten Kapitel des Buches
Deuteronomium (Dtn 30,16). Und ganz ähnlich sagt Jesus dem reichen Jüngling, der
ihn fragt: "Meister, was muss ich tun, um das Leben zu gewinnen?" - "Wenn du das
Leben erlangen willst, halte die Gebote" (Mt 19,16-17). Wir werden also uns
näher ansehen müssen, warum die Gebote Gottes ein Weg zum Glück sind. Weil Gott
unser Glück will, zeigt er uns den Weg dazu und warnt uns vor dem Weg zum
Unglück. Wir werden aber nicht nur von diesen äußeren Wegzeichen sprechen, den
Geboten, sondern auch von einem inneren Kompass. Gott hat in unser Herz einen
Kompass gelegt, der sehr genau funktioniert, der aber auch immer wieder
adjustiert, nachgestellt werden muss. Wir nennen diesen Kompass, der uns "glückwärts"
führt, das Gewissen. Das Gewissen ist der innere Wegweiser zum Glück. Wenn uns
das Gewissen beißt, dann sagt das: Geh diesen Weg nicht, er ist nicht gut. Oder
wenn es uns im nachhinein beißt, weil wir etwas Schlechtes getan haben, dann
sagt uns das Gewissen: Dieser Weg, den du gegangen bist, war kein guter.
Neben diesen beiden Wegweisern, dem äußeren der Gebote und dem inneren des
Gewissens, möchte ich noch zwei andere Hilfen nennen, die Gott uns auf dem Weg
gegeben hat. Die Vorbilder, wir sehen an Menschen, wir können an ihnen
abschauen, wie das aussieht, einen guten Weg zu gehen, wie ein geglücktes Leben
aussieht. Gerade im Bereich unserer Lebensgestaltung sind Vorbilder ganz
entscheidend, sie sind unsere "Lebemeister". An ihnen sehen wir, wie das
aussieht, wenn man den richtigen Weg geht. Deshalb gehört zur Sittenlehre immer
auch der Sittenlehrer, und keiner ist ein so großartiger Sittenlehrer wie Jesus
selber. Aber noch ein viertes möchte ich nennen, was Gott uns auf den Weg gibt,
um den Weg zum Glück zu finden. Das mag überraschend klingen, ich nenne es
einfach: die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist ein großer Lehrmeister. Die
Wirklichkeit nötigt uns zum Realismus, zur Nüchternheit und Sachlichkeit. Wir
wissen, dass wir nicht an der Wirklichkeit vorbei leben können. Wenn ich am
Abend zu viel gegessen habe, weil es mir zu gut geschmeckt hat, dann ist die
Wirklichkeit unerbittlich in der Nacht, wenn ich Alpträume habe und nicht
schlafen kann. Die Wirklichkeit holt uns ein und sagt uns, was an unsern
Schritten nicht richtig war. Umweltsünden, sie rächen sich, sie zeigen, dass
unser Verhalten die Umwelt vergewaltigt und oft sogar nachhaltig beschädigt. Die
Folgen davon bekommen wir zu spüren und sie zeigen uns, was wir falsch gemacht
haben. Wer sich beim Essen und Trinken nicht an das gesunde Maß hält, beim
Genießen, der wird von der Wirklichkeit des eigenen Körpers eingeholt.
Missbrauch meldet sich durch Krankheit, durch Gesundheitsschäden und erinnert
uns an das gesunde Leben. So ist es in allen Bereichen der Wirklichkeit. Die
Wirklichkeit gibt uns Rückmeldungen, ob unser Weg richtig ist.
Ungerechtigkeiten, kleine oder größere Ungerechtigkeiten können eine Zeit lang
unbemerkt bleiben, früher oder später kommen sie auf uns zurück.
Unwahrhaftigkeit, kurzfristig mag sie erfolgreich sein, aber "Lügen haben kurze
Beine" - Wahrheit und Wirklichkeit gehören zusammen. Wenn wir in Wort und Tat
die Wirklichkeit verleugnen, dann schlägt sie auf uns selber zurück. Was ich
hier Wirklichkeit nenne, nennt die traditionelle Philosophie und Ethik die
"Natur". Sittlich gutes Handeln ist ein naturgemäßes Handeln. Es ist nicht
widernatürlich. Es hält sich an die Ordnung der Dinge, an die Natur des Menschen
und an die Natur der Dinge, die uns umgeben. "Act naturally", das erinnert die
älteren unter uns an einen Song von den Beatles, ich weiß, das klingt schon sehr
veraltet, wenn man an die Beatles erinnert, aber in meiner Jugend war das ein
sehr beliebter Song, "Act naturally" - "Handle natürlich!" Aber was entspricht
der menschlichen Natur? Was ist für uns natürlich? Ist die Monogamie natürlich?
Aber in manchen Kulturen gibt es die Polygamie. Ist Homosexualität
"unnatürlich"? Aber viele reden uns ein, dass das eine Variante unter anderen
ist. Was ist natürlich? Wir stehen vor den großen Fragen der Bioethik: Ist
Klonen widernatürlich? Ist das Eingreifen in den genetischen Code wider die
menschliche Natur? Aber warum soll dann eine Blinddarmoperation nicht
widernatürlich sein? Wir sehn und werden das immer wieder sehen, wie schwierig
es ist, im einzelnen zu sagen, im konkreten sittlichen Urteil: Das entspricht
der Natur, oder: Das widerspricht ihr. Das liegt wohl auch daran, wie das
sittliche Handeln selber beschaffen ist. In den allgemeinen Prinzipien ist es
ganz klar. Aber je praktischer es wird, auf das einzelne hin gerichtet, desto
schwieriger kann es werden, richtig zu urteilen.
Jeder Mensch, so denke ich, jeder Mensch, der menschlich denkt, ist
einverstanden damit: Das Gute ist zu tun, das Böse ist zu lassen. Aber was heißt
ganz konkret, in der jetzigen Situation den Terrorismus bekämpfen? Ist ein
Nachgeben nicht vielleicht eine Ermutigung, dass der Terror noch größer wird?
Ist ein kräftiges Dreinschlagen nicht auch wieder in Gefahr, dass der
Terrorismus noch verstärkt wird und zu neuen Aktionen ermutigt wird? Wo ist das
richtige Maß in der konkreten Entscheidung. Wir sehen, wie sehr wir für die
Politiker beten müssen, die in diesen schwierigen Fragen ganz konkrete
Entscheidungen treffen müssen. Das Gute ist zu tun und das Böse ist zu lassen.
Darüber sind sich alle einig.
Im Alten Testament gibt es, so glaube ich, 661 Gebote. Weil das Leben so
vielfältig ist, hat das Volk Israel in seinem Horchen auf den Willen Gottes
versucht, viele Einzelbestimmungen festzulegen, um auf möglichst viele
Situationen eine Antwort zu geben: Was ist jetzt hier konkret zu tun? Was ist
der Wille Gottes hier und jetzt? Für alle Menschen ist es irgendwie einsichtig,
dass wir naturgemäß, der Wirklichkeit gemäß handeln sollen. Aber wenn wir da
nachzudenken beginnen: Ist es zum Beispiel sinnvoll, dass wir mit unseren Autos
und Flugzeugen so massiv die fossilen Brennstoffe verbrauchen, dass sie in
wenigen Jahrzehnten aufgebraucht sein werden? Ist das nicht widernatürlich, was
wir da tun?
Auch bei den Vorbildern, so klar Vorbilder für uns sein können, aber ihr Leben
kann ich ja nicht eins zu eins in mein Leben übersetzen. Ich kann nicht das
Leben der Mutter Theresa leben, obwohl sie ein großes Vorbild ist. Ich muss mein
Leben leben, meine Talente erkennen, meine Aufgaben erfüllen, ich muss den
Willen Gottes in meinem Leben erkunden und verwirklichen. So können die
Vorbilder mir helfen, sie können mir Ansporn und Ermutigung sein, aber sie
nehmen mir nicht mein Leben ab. Ich muss selber die richtigen Entscheidungen
treffen. Wie schwer ist das oft für Eltern, wenn sie ihre Kinder innerlich
loslassen müssen, weil die Kinder bei allem Vorbild, das die Eltern geben
können, bei allen Geboten, die sie geben können, doch letztlich es selber finden
müssen.
V.
Blicken wir auf den bisherigen Weg zurück. In unser Herz ist das Verlangen nach
Glück eingeschrieben. Der Weg zum geglückten, zum glücklichen Leben ist uns
aufgetragen, aber wir müssen ihn finden. Wir wollen und wir dürfen glücklich
sein bzw. werden, aber wir finden den Weg dorthin nicht ohne weiteres. Wir
machen selber die schmerzliche Erfahrung von Irrwegen. Und Gott lässt uns die
Freiheit, auch Irrwege zu gehen. Aber wir haben Orientierungspunkte. Ich habe
bisher vier genannt: 1. Gottes Gebot, das uns Licht auf dem Pfad ist, weil wir
es von uns aus nicht immer so klar sehen: "Halte die Gebote, und du wirst zum
Leben kommen!"; 2. Das Gewissen, das wie ein Kompass ausschlägt, wenn ich vom
Weg abkomme; 3. Die Wirklichkeit, die "Natur", unsere menschliche Natur und
unsere Umwelt-Natur, die von uns erfordert, dass wir ihr entsprechend handeln;
4. schließlich die Vorbilder, die uns zeigen, dass es gelingen kann, und die uns
den Mut machen, es ist tatsächlich möglich, auch wenn ich es erst finden und
gewinnen muss.
Das wird das große Thema dieses Jahres sein, diesen Orientierungspunkten
nachzugehen. Aber wenn wir noch ein paar Minuten haben, möchte ich einen fünften
Punkt anfügen: Ist das, was ich bisher gesagt habe, schon christliche Moral? Ist
das nicht im Grunde das, was jeder Mensch als Gepäck mit auf die Reise bekommt
für ein menschliches Leben? Gibt es überhaupt eine christliche Moral? Wäre es
nicht besser zu sagen, es wäre schon gut, wenn wir Christen uns an die
menschliche Moral hielten? Anständige Menschen zu sein ist ja keine Schande.
Gibt es doch etwas, was im Christlichen noch dazu kommt? Ich habe den Titel der
heutigen Katechese genannt: "Das Fundament der christlichen Moral". Der
Katechismus nennt in seinem dritten Teil, der über die Moral handelt, als Titel:
"Das Leben in Christus". Offensichtlich gibt es noch eine andere Dimension. Ich
möchte zum Abschluss einen Satz zitieren, der ganz am Anfang dieses dritten
Teils des Katechismus steht. Er stammt vom großen Papst Leo dem Großen, aus
seiner Weihnachtspredigt. Er sagt uns das, was ich die fünfte Dimension nennen
möchte, das, was über das Natürliche, Sittliche hinausgeht. Papst Leo d. Gr.
sagt: "Christ, erkenne deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig
geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter
deiner Würde. Denk an das Haupt und den Leib, dem du als Glied angehörst!
Bedenke, dass du der Macht der Finsternis entrissen und in das Licht und das
Reich Gottes aufgenommen bist" (Sermo 21,2-3, KKK 1691). Die christliche
Sittlichkeit ist ein Leben in Christus, ein Leben mit Christus.
Das hier etwas Neues geschieht, das versucht der Katechismus im einzelnen dann
zu entfalten. Ich möchte ganz zum Schluss nur vier Stichworte nennen zu den vier
Dimensionen, die ich eben genannt habe. Die Gebote Gottes, ja, aber für den
Christen sind sie nicht nur äußere Gebote, der Heilige Geist schreibt sie uns
ins Herz und die Liebe sagt uns aus dem Herzen heraus, was das Gebot ist und
nicht nur als äußeres Gebot. Das Gewissen, jeder Mensch hat das Gewissen, auch
der Christ, aber der Heilige Geist gibt uns ins Gewissen etwas mehr hinein, die
Weisung, die Weisung des Heiligen Geistes, seine Gaben und letztlich seine
Liebe. Und das "Act naturally", "Handle natürlich", heißt für den Christen auch
"Handle übernatürlich", über die Natur hinaus, Glaube, Hoffnung und Liebe.
Schließlich das Vorbild ist der Herr selber. Christus zeigt uns einen größeren
Weg, der über alle unsere eigenen Anstrengungen zur Sittlichkeit hinausgeht.
Über diesen Weg möchte ich mit Ihnen in diesen Katechesen nachdenken, ihn uns
anschauen und ich hoffe auch, dass wir ihn ein bisschen besser und ein bisschen
mehr zu gehen vermögen.
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