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Die Wurzel trägt dich...- Katechese

Kardinal Dr. Christoph Schönborn - Katechesen
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Ich, Kardinal Dr. Christoph Schönborn, begrüße sie und möchte sie einladen, meine Katechesen zu lesen.

Katechesen 1999/2000
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. Jahresreihe - 5. Katechese, 30.01.00

"Die Wurzel trägt dich!" - Christentum und Judentum

"Die Wurzel trägt dich!" - Christentum und Judentum

Lasset uns beten! Komm Heiliger Geist, Geist der Wahrheit und der Liebe, Geist der Erkenntnis und der Stärke, stärke unseren Willen, erleuchte unsere Erkenntnis und wohne in unserem Gedächtnis. Führe uns in die ganze Wahrheit ein, führe uns zu Christus unserem Herrn. Amen!

Es freut mich, den koptischen Bischof von Deutschland heute in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, der aber etwas früher weg muss, weil der Zug dann schon nach Berlin zurückgeht. Wir teilen mit ihm die Trauer um den plötzlichen Tod, den plötzlichen Heimgang des langjährigen koptischen Priesters von Wien, P. Johannes El Baramousy, der ein wirklich treuer Diener Christi war, ein Priester mit ganzem Herzen. Wir trauern auch um den für die Kontakte mit den östlichen Kirchen so verdienten Präsidenten Dkfm. Alfred Stirnemann, der am Freitag verstorben ist.

Das Thema der heutigen Katechese, der ersten im neuen Jahrtausend - wenn man es so nennen darf, oder sagen wir zur Sicherheit im Jahr 2000, im Heiligen Jahr -, ist: “Die Wurzel trägt dich und nicht du die Wurzel - Christentum und Judentum.” Es werden sicher viele Fragen heute offen bleiben und wahrscheinlich müssten wir eine ganze Reihe von Katechesen haben, um die vielen Fragen, die mit diesem so lebenswichtigen Thema für unseren Glauben verbunden sind, ausführlich zu behandeln. Ich bitte auch, wie ich es immer wieder sage, mir schriftlich Fragen zukommen zu lassen, wenn manches unklar ist oder wenn Sie zu dem einen oder anderen Thema gerne noch Ergänzungen, Vertiefungen gehört hätten.

Zu diesem Thema gibt es natürlich viele Zugänge. Es gibt einmal den ganz einfachen Zugang, dass wir als Christen und Juden versuchen, miteinander gut auszukommen, tolerant zu sein, die Religionsfreiheit gegenseitig zu achten, und das gilt nicht nur für das Verhältnis von Christen und Juden, das gilt für alle Religionen. Und hier hat uns der Heilige Vater sicher ein großes Vorbild gegeben, indem er in den vergangenen Jahren immer und immer wieder den Dialog der Religionen, das gegenseitige Interesse, die Wachheit füreinander gefördert hat. Wir denken hier an die Begegnung der Religionen, der Religionsgemeinschaften in Assisi. Aber das wird heute nicht unser Zugang sein. So wichtig es ist, dass es dieses ganz einfache gegenseitige Verständnis unter den Religionen gibt: Wir haben zum Judentum eine ganz einzigartige Beziehung wie zu keiner anderen Religion. So sehr, dass unser Glaube ohne diese Beziehung gar nicht bestehen könnte. Wir haben das AT - heute haben wir wie an jedem Sonntag im Gottesdienst, in der Eucharistie eine Lesung aus dem AT gehört - und sind mit ihm mehr oder weniger vertraut, werden aber doch immer wieder von der Kirche zum AT hingeführt. Wir beten die Psalmen, zahllose Menschen beten auf der ganzen Welt das Stundengebet, die Tagzeiten und damit die Psalmen des Alten Bundes. Als Edith Stein nach ihrer Taufe mit ihrer Mutter in Breslau in die Synagoge ging, hatte sie ihr lateinisches Brevier mit dabei und zur großen Verwunderung der gläubigen jüdischen Mutter hat Edith im Brevier mitbeten können, was in der Synagoge gebetet wurde.

Wir lesen die Propheten. Wie wichtig sind die Propheten für unseren Glauben? In den Kirchen und Domen finden wir die Darstellungen der Propheten, weil sie hinweisen auf das kommende Heil, auf Christus. Wir haben die Geschichtsbücher des Alten Bundes, von der Genesis angefangen bis hin zu den wunderbaren, aber auch dramatischen Geschichtsbüchern, in denen uns die lange Geschichte des Volkes Gottes vor Augen geführt wird. Wir haben die Weisheitsbücher. Wie viel an menschlicher Erfahrung, an Glaubenserfahrung wird vermittelt durch die alttestamentlichen Weisheitsbücher, die Sprichwörter, Jesus Sirach, das Buch der Weisheit, Hiob, um nur einige zu nennen. Wir beten das Magnificat im Tagzeitengebet, jeden Abend in der Vesper betet die Kirche das Magnificat Mariens, wo es ganz am Schluss heißt: “Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig” (Lk 1,54-55). Das beten wir Christen: “Er nimmt sich seines Knechtes Israel an, er denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen.”

Wir beten das so selbstverständlich, aber was bedeutet das eigentlich, dass unser ganzes christliches Leben zusammen gefasst ist in einem solchen Gebet, das wir mit Maria sprechen? Was haben wir denn mit Abraham zu tun? Was haben wir Europäer mit der Geschichte eines kleinen, unbedeutenden Volkes aus dem Vorderen Orient zu tun? Diese Frage wird heute von manchen gestellt, in den großen Regionen Asiens, wo uralte Religionen die Mehrheit der Bevölkerung bestimmen. In Indien etwa, wo manche Christen verlegen sind und sich fragen, ist es nicht besser, die Bücher dieser alten Religionen zu verwenden als dieses seltsame AT? Was soll es in Afrika, was in Lateinamerika? Und immerhin fragen auch Menschen bei uns in Europa: Wozu haben wir eigentlich das AT? Aber die Frage ist uralt, und bereits im Jahre 44 hat die Kirche, die Gemeinde von Rom, eine ganz wichtige Entscheidung getroffen. Damals lehrte ein sehr brillanter, intelligenter Mann in Rom, Markion mit Namen, der die Überzeugung vertrat, jetzt mit Jesus Christus sei Neues gekommen. Das Alte sei wirklich vergangen, der Gott des AT sei ein rächender, strafender Gott, das sei nicht der liebende Gott Jesu Christi. Deshalb, so lehrte Markion, müsse man das AT abschaffen. Aber die Kirche hat nicht das AT verworfen, sondern Markion. Es war die erste ausdrückliche Häretiker-Verurteilung in der alten Kirche, die Kirche hat sich klar zum AT bekannt.

Was bedeutet dieses “Ja” zum AT für die Kirche? Es bedeutet, dass die Geschichte, die uns im AT berichtet wird, unsere Geschichte ist. Wir sind Mitglieder des Volkes Gottes geworden, wir sind, wie Papst Leo der Große einmal sagt, “in die Familie der Patriarchen aufgenommen”. Wir haben, wie es in der Osternacht in einem Gebet heißt, Anteil bekommen an der israelitica dignitas, an der Würde des Volkes Israel. Wir sind, wie Pius XI. gesagt hat, geistlich Semiten geworden. Seien wir ehrlich, viele tun sich schwer mit dem AT. Es ist uns oft zu unbekannt und es ist uns einfach fremd, vieles von dem, was uns da berichtet wird, hat für unser heutiges Leben wirklich den Charakter eines fernen, fremden Textes. Aber andererseits, wie viele wunderbare Stellen gibt es im AT, und je mehr wir uns darauf einlassen, desto mehr sehen wir, wie sehr das AT unsere Geschichte ist - ich werde darauf gleich noch einmal zurückkommen.

Wir kommen damit zu einer ganz schwierigen Frage: Was bedeutet für uns das heutige Judentum? Was bedeutet für uns das jüdische Volk, der jüdische Glaube? Ist das einfach eine Religion unter anderen? Haben wir eine besondere Beziehung zu dieser Religion, zu diesem Glauben? Ein interessantes Zeichen war, als es nach dem zweiten Vatikanischen Konzil in diesem großen Aufbruch des Ökumenismus und des Dialogs darum ging, zu fragen, wohin eigentlich der Dialog mit dem Judentum gehört, hat Papst Paul VI. im Anschluss an Papst Johannes XXIII. sich dafür entschlossen, dass der Dialog mit dem Judentum zum Rat für die Einheit der Christen gehört. Nicht zu dem Rat, der sich mit den Weltreligionen beschäftigt, mit dem Gespräch mit den Weltreligionen. Darin kommt zum Ausdruck, dass die Beziehung vom Christentum zum Judentum etwas ganz Einzigartiges ist.

Die zentrale Frage ist sicher: Was bedeutet Jesus, der Messias? Was bedeutet es für uns, dass er Jude ist, dass er der Messias Israels ist, also des Volkes Gottes? Und was bedeutet es für die Juden, dass wir glauben, dass Jesus der erwartete Messias ist? Was bedeutet die Tatsache, dass ein Großteil des jüdischen Volkes Jesus nicht als den erwarteten Messias angenommen hat, sondern weiter auf den Messias wartet? Das ist sehr beeindruckend in der jüdischen Paschafeier, wenn nach alter Tradition das jüngste Kind an einer Stelle die Tür öffnet und hinausschaut in die Dunkelheit, ob vielleicht Elia, ob vielleicht der Messias vor der Tür steht, diese bei vielen gläubigen Juden sehnsüchtige Erwartung nach dem Kommen des Messias.

Simeon, der Greis, der das Kind in die Arme nimmt - wir werden es diese Woche feiern -, als Maria und Josef das Kind in den Tempel bringen zur Darstellung, Simeon grüßt das Kind und sagt: “Meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast. Ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel.” Dieses Kind, Jesus von Nazareth, ist also Licht für die Heiden. Lumen gentium heißt es in der lateinischen Übersetzung, und mit diesen Worten beginnt die große Konstitution des zweiten Vatikanums über die Kirche. Die Kirche spiegelt das Licht wieder, das Jesus Christus ist. Christus ist das Licht der Völker, Licht zur Erleuchtung der Heiden, aber auch Herrlichkeit für sein Volk Israel. Wir stehen vor der Frage: Hat Israel diese Herrlichkeit nicht erkannt? Haben sie “den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt”, wie Paulus sagt? Sie haben ihn nicht erkannt. Ist deshalb das jüdische Volk verworfen? Hat Gott deshalb sein Volk verworfen, weil es den von ihm gesandten Messias, seinen Sohn, nicht erkannt hat?

Eines ist eine traurige Gewissheit: die Christen haben immer wieder in den 2000 Jahren unserer Geschichte deshalb Juden verfolgt, als Gottes Mörder, als die, die den Messias Jesus nicht erkannt haben, und die deshalb, so glaubte man, von Gott verworfen sind. Ein Rabbinersohn, David Tulman - sein Vater war Rabbiner aus Russland, nach Ungarn geflüchtet vor den Pogromen, zu Beginn unseres Jahrhunderts -, schreibt in seinen Erinnerungen, seinen Kindheitserinnerungen, welchen Schrecken es für diese kleine jüdische Gemeinde in dem ungarischen Dorf bedeutet hat, wenn der Karfreitag der Christen kam. Denn an diesem Tag sind immer wieder die Pogrome passiert, da hat sich das Volk gegen die Juden gewandt, weil sie den Messias umgebracht haben. Es ist zweifellos eine ganz schmerzliche Geschichte, der “Antijudaismus” in der christlichen Geschichte. Wir haben jetzt nicht die Zeit darauf einzugehen, das wäre ein eigenes Thema, das ich heute nicht besprechen möchte.

Im 19. Jahrhundert ist etwas anderes dazugekommen, der so genannte Antisemitismus, der zwar am Antijudaismus anknüpfen konnte, aber doch etwas anderes war: Mit der Rassentheorie, mit seinem Gefolge von Hetze und Häme, und schließlich als Endpunkt die schlimmste Judenverfolgung der Geschichte, die Schoah mit den zahllosen Opfern. Was in diesem Jahrhundert geschehen ist, hat bei den Christen zu einer Neubesinnung geführt. Unvergessliche Bilder, die Begegnung von Papst Johannes XXIII. mit einigen Juden, auf die er zugegangen ist und gesagt hat: “Ich bin Josef, euer Bruder” (Papst Johannes hieß mit seinem Taufnamen Giuseppe). Oder jene anderen Bilder, wie Papst Johannes Paul II. die große Synagoge in Rom besucht: Der erste Besuch eines Papstes in der Synagoge von Rom seit der Zeit der Apostel. Paulus ist natürlich in Rom in die Synagoge gegangen, und Petrus auch. Aber das soll heute nicht unser Thema sein, es wäre sicher lohnend, darauf einmal eigens einzugehen.

Was ich heute versuchen möchte, ist eine Sicht des Glaubens, warum es überhaupt ein auserwähltes Volk gibt. Ist diese Idee, dass Gott ein Volk, ein Volk unter vielen anderen erwählt, überhaupt eine annehmbare Idee, wird sie nicht von vielen verworfen, abgelehnt? Ich darf - das mache ich nicht oft, aber ich möchte doch - auf ein Buch hinweisen, das mich besonders beeindruckt hat. Es ist etwas dick, es ist vielleicht zu dick, um gleich verlockend zu sein, aber ich habe selten so eindringlich, klar, einfach und gut verständlich die Frage dargestellt gefunden, warum eigentlich Gott ein Volk erwählt hat. Es ist das Buch des Neutestamentlers Gerhard Lohfink “Braucht Gott die Kirche?” (Herder 1998). Braucht Gott die Kirche, braucht Gott ein auserwähltes Volk? Sind nicht alle Menschen gleicher Würde, sind nicht alle Menschen von Gott geliebt und gerufen, warum dieser Weg über ein Volk? Dieser Frage möchte ich nachgehen. Ich möchte ein wenig darüber mit Ihnen nachdenken, was es bedeutet, dass unter den vielen Völkern, die es auf der Welt gibt, eines Gottes erste, Gottes große Liebe ist.

Ich glaube, an dieser Frage hängt auch sehr entscheidend das Verständnis für die Kirche. Warum ist die Kirche nicht einfach irgendeine Religionsgemeinschaft unter den vielen, die es gibt? Warum glauben wir, dass die Kirche Zeichen und Werkzeug Gottes für das Heil aller Menschen ist? Warum glauben wir, dass Gott in Jesus Christus alles Heil durch die Kirche den Menschen schenken will? Das können wir nur verstehen, wenn wir auf das Geheimnis Israels schauen. Das zweite Vatikanische Konzil hat ein ganz kurzes Dokument verfasst über die Beziehung der Kirche zu den Religionen (“Nostra Aetate”). Kardinal König hat an diesem Dokument sehr stark mitgewirkt. Und dort heißt es im vierten Artikel: “Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.” Und der Heilige Vater hat, wie er in Rom in die Synagoge gegangen ist, diesen Text lange und gründlich ausgelegt. Die Kirche besinnt sich auf ihr eigenes Geheimnis und stößt dabei auf Israel. Ich sage “Geheimnis”, denn es ist mit Israel wie mit der Kirche, eine sichtbare Wirklichkeit, oft eine sehr menschliche Wirklichkeit. Mit allen menschlichen Schwächen, von denen das jüdische Volk genauso wenig ausgenommen ist wie die Kirche, und doch ist dieses auserwählte Volk ein Geheimnis, wie die Kirche eines ist. Israel trägt das Siegel Gottes, es ist mit dem Siegel Gottes geprägt, und deshalb in all seinen menschlichen Schwächen und Größen mehr als nur ein Volk.

Als am Katechismus für die Katholische Kirche gearbeitet wurde, stand im Entwurf ein kleiner Satz, der zu großer Aufregung geführt hat. Dort stand: “Israel ist nicht eine Nation.” Dieser Text wurde irgendwie bekannt und es gab in der Presse in Israel, im Staat Israel große Aufregung: “Die Katholische Kirche leugnet, dass der Staat Israel eine Nation ist.” Das war natürlich ganz und gar nicht gemeint. Es war damit gemeint, und in der Endfassung wurde das auch klarer formuliert, das jüdische Volk Israel - nicht jetzt der Staat Israel, sondern das von Gott erwählte Volk - ist nicht einfach ein Volk unter anderen, eine Nation unter anderen, es ist etwas ganz Besonderes mit diesem Volk.

Was heißt das: erwähltes Volk? Das jüdische Volk hat seine Identität nicht durch die Rasse, das war ein gravierend schwerer Fehler in der Rassentheorie, das jüdische Volk lässt sich nicht von der Rasse her bestimmen, es lässt sich auch nicht als Nationalität definieren. Wenn wir die Heilige Schrift befragen, dann ist klar: Dieses Volk verdankt sein Volksein ganz und gar der Berufung, es entsteht dadurch, dass Gott es herausruft aus den Völkern, und das ein für alle Mal. Paulus wird im Römerbrief ganz klar sagen, im 11. Kapitel: “Gnade und Berufung Gottes sind unwiderruflich.” Es beginnt mit der Erwählung Abrahams. Gott ruft einen Menschen heraus aus seiner vertrauten Umwelt: “Ziehe fort aus deiner Heimat, aus deiner Familie... Ich werde dich zu einem großen Volk machen und du wirst ein Segen sein und in dir werden alle Nationen, alle Völker gesegnet sein.” So heißt es im 12. Kapitel der Genesis.

Wir verstehen, warum der Heilige Vater so gerne nach Ur in Chaldäa gefahren wäre, in den Irak. Leider ist es ihm nicht vergönnt, diese Reise zu machen. Seine große Idee für das Heilige Jahr war, dass er alle die Stätten der Berufung des Volkes Gottes der Reihe nach besucht. Ur in Chaldäa, von wo Gott den Abraham berufen hat, den Berg Sinai, wo er sich seinem Volk geoffenbart hat und es zu einem Volk gemacht hat. Nun wird er doch nach Ägypten fahren können, so hören wir, und er wird wahrscheinlich auch auf den Berg Nebo fahren, wo Mose gestorben ist, um noch in das Heilige Land schauen zu können.

Der Heilige Vater erinnert uns durch diese Gesten daran, dass das Volk Gottes nicht durch eine Rasse, eine Sprache, eine Kultur, sondern ganz und gar durch den Ruf Gottes zustande kommt. Gott hat Abraham herausgerufen, Gott hat die Nachkommen Abrahams gesammelt und das Wort, das die Bibel dafür gebraucht, ist genau dasselbe Wort, das dann im NT für Kirche steht, Ecclesia, “die Herausgerufene”. Wir können sagen, von Anfang an ist das Volk Gottes so etwas wie Kirche, Versammlung von Menschen, die Gott gerufen hat. Nun muss man aber die Frage stellen: Warum ruft Gott Menschen heraus, um sie zu seinem Volk zu machen? Ist nicht soviel Missbrauch getrieben worden mit der Idee des erwählten Volkes? Wie viele Staaten, Nationen, Länder haben sich groß machen wollen dadurch, dass sie sich für das erwählte Volk gehalten haben? Die Erwählung Israels, die Erwählung des auserwählten Volkes steht in einem Zusammenhang, den wir nur sehen, wenn wir zurückgehen bis zu Adam und Eva. (Ich weiß nicht ob wir so lange Zeit haben werden bis zu Adam und Eva zurückzugehen!)

Wenn wir verstehen wollen, was Gottes Plan mit diesem Volk ist und bis zum Ende der Welt sein wird, dann müssen wir wirklich zu Adam und Eva zurückgehen. Dann müssen wir uns das ansehen, was in der Bibel als das große Drama der Menschheitsgeschichte am Anfang gezeichnet wird. Gott hat die Menschheit geschaffen als seine Familie. Die große Vision, der große Plan Gottes ist nicht eine in viele zahllose Völker, Sprachen, Rassen zerspaltene und darin zerstrittene Menschheit, sondern seine Familie, die Menschheitsfamilie. Übrigens eine Idee, ein Gedanke, der ganz auf dem biblischen Boden zu Hause ist und der in vielen anderen Kulturen und Religionen in dieser Weise nicht gedacht wird. Das ist wirklich biblische Offenbarung: Gott hat den Menschen geschaffen, damit die Menschheit seine Familie sei.

Sie ist es nicht geworden durch die Sünde: Die Menschheit ist zerspalten in viele Sprachen, viele Kulturen, Rassen, Stämme, Völker und wenn es auch immer wieder ein Miteinander gibt, so ist doch das Gegeneinander oft stärker. Demnächst darf ich nach Nigeria fahren, dort gibt es in diesem einen Land, es ist das größte von Afrika, 250 Sprachen. Gott will eine Familie, seine Familie. Um diesen ursprünglichen Schöpfungsplan trotz der Sünde zu verwirklichen, beginnt er an einem Eck zu sammeln, und durch dieses eine Eck, durch diesen aus Ur in Chaldäa gerufenen Abraham, will er alle Völker segnen: “In dir sollen alle Völker der Erde gesegnet sein”, einer für alle. In dem einen segnet er alle, und die Nachkommen Abrahams sollen Segen sein für alle Völker.

Wenn wir also fragen, was das jüdische Volk ausmacht, so können wir sagen, es ist - mit einem theologischen Ausdruck gesagt - das Sakrament Gottes für die Einheit der Menschen. Es ist jenes Werkzeug und Zeichen, das Gott sich gewissermaßen geschaffen hat, um durch dieses Werkzeug allen Menschen Segen zukommen zu lassen. Wenn wir jetzt in die Geschichte dieses Volkes schauen, so ist es doch ein eigenartiges, rätselhaftes Phänomen, dass dieses Volk, obwohl es so klein, so unscheinbar ist, bis heute besteht. Was ist aus den Völkern des Vorderen Orients geworden? Natürlich gibt es die Menschen, die dort gelebt haben, in ihren Nachfahren. Aber die Völker, die Reiche, die Staaten sind längst zugrunde gegangen und andere sind ihnen nachgefolgt. Aber dieses kleine, jüdische Volk besteht bis heute. Schon alleine vom geschichtlichen Standpunkt aus ist das rätselhaft, vom Glauben her ist es ein Geheimnis, es ist das Geheimnis der Erwählung. Gott hat dieses Volk geliebt und diesem Volk einen einzigartigen Auftrag gegeben, den kein anderes Volk hat. Darum unterscheidet sich das Judentum von allen anderen Religionen.

Man hat schon im Altertum den Juden vorgeworfen, sie seien hochmütig, weil sie sich für das auserwählte Volk halten. Dieser Vorwurf gilt heute noch der Kirche, wenn wir sagen, dass die Kirche das Heilsinstrument Gottes ist. In dem etwas missverständlichen Satz formuliert: “Außerhalb der Kirche kein Heil.” Das heißt: Alles, was Gott der Menschheit schenken will, schenkt er durch dieses Volk, durch diese Volksversammlung, die Kirche. Dieses kleine Volk, das jüdische Volk, so klein es ist, hat also eine universelle, eine weltweite Berufung, alle Menschen sollen durch “es” Segen empfangen. Das bedeutet aber auch: Niemand kann das Heil erlangen, die Verheißungen Gottes empfangen, als durch dieses Volk. Ist das nicht etwas seltsam? Aber Jesus hat es ganz ausdrücklich gesagt, als er der Samariterin am Brunnen gesagt hat: “Das Heil kommt von den Juden.”

Gilt das auch heute noch? Ist das nicht längst überholt? Ist die Synagoge nicht oft in unseren Domen, in den mittelalterlichen Kathedralen, als blind dargestellt? Man stellte sie dar mit einem Band über den Augen, weil sie den Messias nicht erkannt haben, und daneben steht die Ecclesia, die Kirche, die auf Christus hinschaut, weil sie ihn gläubig angenommen hat. Hat Israel nicht seine Berufung verspielt? Sagt nicht das NT an vielen Stellen ganz klar, dass der Alte Bund vorbei ist und der Neue jetzt gilt? So heißt es etwa im Hebräerbrief in Bezug auf die Verheißungen - die es schon im AT gibt -, dass Gott einmal einen Neuen Bund machen wird, es heißt in Hebräer 8,13: “Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe.” Ist nicht das neue Volk Gottes, die Kirche, an die Stelle des alten Volkes getreten?

Irgendwie ist dieser Gedanke doch bei uns sehr weit verbreitet: Sie sind aus der Verheißung heraus gefallen, weil sie Jesus nicht als Messias erkannt haben. Hat nicht Jesus geweint über Jerusalem, als er die Stadt vor sich liegen sah und gesagt hat: “Wie oft habe ich versucht, deine Kinder zu sammeln, wie eine Henne ihre Küken sammelt, und ihr habt nicht gewollt.” Und hat er nicht in einem Gleichnis von den bösen Winzern gesagt: “Was wird der Weinbergsbesitzer tun mit den unguten Knechten, die sogar den Sohn umgebracht haben? Er wird ihnen den Weinberg wegnehmen und ihn anderen geben.” Hat also Gott nicht die Juden verworfen, um dem neuen Volk Gottes die Verheißungen zu übergeben?

Es stimmt, dass es immer wieder so dargestellt wurde. Und doch, und das ist nicht einfach eine neue Lehre, die das zweite Vaticanum uns heute sagt, sondern es ist eine Vertiefung unserer Glaubenssicht über das Geheimnis der Kirche: “Gottes Gnade und Erwählung ist unwiderruflich”, sagt Paulus. Gott hat sein Volk nicht verworfen. Es stimmt, dass viele in seinem eigenen Volk ihn nicht als Messias erkannt haben, aber hat Gott deshalb seine Liebe seinem Volk entzogen? Hat er nicht gerade deshalb seine Liebe diesem Volk ganz besonders gezeigt, weil es ihn nicht erkannt hat? Es gibt einige ganz klare Hinweise im NT, dass Gottes Treue unverbrüchlich ist, auch dort, wo Menschen untreu geworden sind.

Ich erinnere an ein Wort Jesu in der Bergpredigt. Ganz am Anfang der Bergpredigt sagt er: “Glaubt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, sie aufzulösen, sondern sie zu erfüllen.” Das heißt doch, Jesus hat das Gesetz und damit den Alten Bund nicht verworfen, sondern ihn in seiner tiefsten Bedeutung erfüllt, nämlich das, was Gott damit wollte: Dass Menschen, dass sein Volk nach seinem Willen lebt - das hat Jesus getan. Und als sie ihn schließlich verworfen, nicht angenommen haben, und ihn ausgeliefert haben, damit er gekreuzigt wird: Hat Jesus sie deshalb verworfen? Hat Jesus nicht, als man ihn gekreuzigt hat, gebetet: “Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.” Vater vergib ihnen: Das heißt doch, er hat sein Leben nicht nur für uns eingesetzt, sondern zuerst für sein eigenes Volk, und durch sein eigenes Volk für alle Menschen: “Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.” Und Paulus ist ein Echo darauf, wenn er dann im ersten Korintherbrief sagt: “Sie hätten ihn nicht gekreuzigt, wenn sie den Herrn der Herrlichkeit erkannt hätten.” Petrus sagt in Jerusalem: “Aus Unwissenheit habt ihr gehandelt.”

Nun das Entscheidende: Jesus hat die Verheißungen, die Gott den Vätern gegeben hat, durch seinen Gehorsam erfüllt. Durch ihn ist das erfüllt worden, was Gott durch die Propheten, durch die Patriarchen, durch das Gesetz des Alten Bundes gesagt, mitgeteilt hat. Jesus ist, so könnten wir sagen, die Zusammenfassung des ganzen Volkes Israel, er ist das wahre Israel. In ihm ist verwirklicht, was Gott mit seiner Berufung für sein Volk wollte. Deshalb kann es nicht sein, dass Jesus sein eigenes Volk verworfen hat, dass Gottes Treue diesem Volk entzogen worden ist, als es seinen Messias, den Sohn Gottes, nicht erkannt hat.

Aber dann stellt sich natürlich die Frage: Was bedeutet dann die heutige Situation zwischen Christen und Juden? Was bedeutet es, dass das jüdische Volk in seiner Mehrheit bis heute Jesus nicht als Messias anerkennt? Was bedeutet für uns das Miteinander - leider manchmal auch das Gegeneinander - mit dem jüdischen Volk? Zuerst: Die Treue Gottes ist unwiderruflich, auch der Unglaube an seinen Sohn hat diese Treue nicht aufgehoben, Gott bleibt seiner ersten Liebe treu. Viele Juden bezeugen durch ihren Glauben und durch ihre Treue zum Gesetz Gottes diese Treue Gottes in unsere Welt.

So möchte ich zum Abschluss auf einige Punkte hinweisen, die uns gemeinsam sind, zum Schluss auf den Punkt, der uns zugleich am tiefsten verbindet und auch am tiefsten trennt. Noch einmal: Wie vieles haben wir gemeinsam! Das Großartige, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewachsen ist, ist das immer tiefere Entdecken dieser Gemeinsamkeiten. Wie viel in unserer Liturgie haben wir aus der jüdischen Liturgie, als Erbe bekommen! Ich könnte jetzt lange und vieles aufzählen, das uns aus dieser Quelle des Volkes Gottes zugekommen ist. Die Psalmen habe ich schon genannt, unser Eucharistisches Hochgebet, das Herz der Eucharistie hat ganz tiefe jüdische Wurzeln, vieles an unseren Kirchengesängen - ich denke vor allem an den gregorianischen Choral - stammt aus der Synagogenliturgie. Was uns miteinander verbindet, sind die großen Gestalten der Bibel, des AT. Was uns verbindet, ist die Hoffnung auf das Kommen des Messias. Wir hoffen auf die Wiederkunft Christi, unsere jüdischen Mitbürger hoffen auf das kommen des Messias. Wir glauben, dass Jesus dieser Messias ist und wir hoffen auf seine Wiederkommen.

Damit bin ich beim Schluss. Was ist das, was uns am tiefsten verbindet, was uns am tiefsten trennt? Zweifellos die Person Jesu selber. “Jesus von Nazareth, Sohn der Jüdin Miriam aus Nazareth, aus dem Geschlecht Davids dem Fleische nach”, sagt Paulus. Jesus von Nazareth, der Sohn des lebendigen Gottes. An ihm scheiden sich die Geister, und an ihm finden wir auch immer wieder zusammen. “Er ist der, der durch sein Kreuz aus den beiden Völkern eines gemacht hat”, sagt Paulus. Er hat durch sein Kreuz die Trennwand der Feindschaft niedergerissen und uns in einem Leib verbunden. Freilich: Die vielen Hindernisse, auch von unserer Seite, daß Juden in Jesus auch ihren Messias erkennen könnten. Eigenartig - es sei nur ganz kurz erwähnt - die wachsende Zahl von Juden, die ganz persönliche Begegnungen mit Jesus haben, man spricht von den messianischen Juden, jenen, die in Jesus den Messias Israels erkannt haben.

Eines ist sicher, die Zukunft ist ganz entscheidend auch von dieser Frage bestimmt: Werden wir Jesus, dem Messias, treu sein, dem Sohn Gottes? Werden wir ihn glaubwürdig als den Messias leben? Aber gleichzeitig die Verheißung - und mit ihr möchte ich schließen -, die Paulus uns in den großen Kapiteln 9-11 im Römerbrief sagt: Das Gleichnis vom Ölbaum. Wir sind aufgepfropft, die Wurzel ist Israel. Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Und dann sagt Paulus: “Wenn schon ihre Verwerfung für die Welt Versöhnung gebracht hat” - dadurch, dass wir an ihrer Stelle aufgepfropft wurden auf dem Wurzelstamm Israel -, “dann wird ihre Annahme nichts anderes sein als Leben aus dem Tod.” Was wird es Großes sein, wenn einmal das geliebte Volk Gottes, Gottes erste Liebe, erkennen wird, wie sehr diese Liebe ihm gilt und wie tief sie ist, so sehr, dass Gott sogar seinen Sohn für dieses Volk und durch es für alle Menschen geschenkt hat.

Damit schließe ich. Ich weiß, es sind viele Fragen offen. Bitte zögern Sie nicht, auch Fragen zu schicken, zu schreiben.

Gelobt sei Jesus Christus!

 

 



 

 

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