Liebe Brüder und Schwestern!Die Katechese des Monats April soll nun, wie die beiden weiteren
Katechesen im Mai und im Juni, dem Gebet gewidmet sein, das der Herr selber uns gegeben
hat. Es ist das Gebet der Christen, das Herrngebet "Vater unser". Nach dem, was
wir über das mündliche, das betrachtende und das innere Gebet nachgedacht haben, ist es
jetzt an der Zeit, das Gebet zu betrachten, in dem eigentlich, wie ein Kirchenvater einmal
sagte, das ganze Evangelium zusammengefasst ist: Das Gebet, das Jesus seinen Jüngern
gegeben hat. Nun wissen wir nicht ganz genau, in welcher Form er es seinen Jüngern
gegeben hat, denn es gibt eine kürzere und eine längere Fassung. Der Evangelist Lukas
kennt nur fünf Bitten und Matthäus kennt sieben Bitten. Aber die Kirche hat immer die
sieben Bitten als ihr gemeinsames Gebet verwendet und so will ich auch diese längere
Fassung betrachten, die wir eben als "Vater unser" beten.
Wir sind im Jahr des Vaters, in der Vorbereitung auf das
"Millennium", auf das Jubiläum. So ist es gut, dass wir beim "Vater
unser" stehen bleiben, in unseren Vorbereitung auf das Millennium. Der Heilige Vater
wollte ja, dass wir mit dem Christusjahr beginnen, dann mit dem Jahr des Heiligen Geistes
und jetzt mit dem Jahr des Vaters fortsetzen. Sicher könnte jeder über Erfahrungen mit
dem "Vater unser" etwas berichten, mit dem Gebet, das wir so oft beten. Die
frühen Christen waren gewohnt, die sieben Vater unser Bitten dreimal am Tag zu beten. Sie
haben diese Tradition von den Juden übernommen, die dreimal am Tag das Schemone esreh,
das Achtzehn-Gebet - die achtzehn Segnungen - zu beten pflegten.
Es gibt in den Jahrhunderten des Christentums, des christlichen Lebens,
viele Gebetserfahrungen mit dem "Vater unser". Zwei möchte ich nennen, beide
aus Rußland, es gibt sicher viele auch bei uns: Die eine ist bekannt geworden, durch die
Bücher, die Tatjana Goritschewa über ihren eigenen Weg geschrieben hat. Sie ist in der
Sowjetunion atheistisch aufgewachsen, hat als Philosophiestudentin die östlichen
Meditationsmethoden kennen gelernt und hat, um zu meditieren, einmal das "Vater
unser" dazu verwendet. Sie hat es als Meditationstext immer wiederholt, aber
gewissermaßen neutral, und sie sagt, dass es beim meditieren des "Vater unser"
war, dass ihr die Gnade des Glaubens geschenkt wurde. Sie ist durch das "Vater
unser" zum Glauben gekommen. Eine andere Erfahrung erzählt Dimitri Panin, er war mit
Alexander Solschenizyn im Lager, in jenem Lager, das Solschenizyn beschrieben hat, in dem
Roman "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch", eines jener schrecklichen Lager
des Archipel Gulag, in dem so viele Menschen ihr Leben gelassen haben. Dimitri Panin, ein
Freund von Solschenizyn - ich durfte ihn, als er dann im Westen im Exil war, kennen lernen,
er ist dann auch katholisch geworden -, Dimitri Panin schreibt in seinen
Lebenserinnerungen, wie er in diesem Lager die Ruhr bekam und man ihn bereits in die
Sterbebaracke abgestellt hatte. Dort sollte er auf seinen Tod warten. Er hat, immer
schwächer werdend - so sagt er - während der ganzen Zeit das "Vater unser"
gebetet, immer wieder wiederholt und zur Verwunderung seiner Wächter ist er nicht
gestorben. Nach 40 Tagen ist er, so berichtet er - und sein Zeugnis ist glaubwürdig -
aufgestanden und war geheilt. Zwei Erfahrungen mit dem "Vater unser", viele
andere könnten genannt werden.
"Was ist die Kraft dieses Gebetes?" fragen wir. Warum hat
dieses Gebet eine solche innere, eine solche lebensspendende Kraft? Der hl. Thomas sagt
einmal: "Dieses Gebet sagt uns nicht nur, worum wir beten sollen, sondern auch in
welcher Reihenfolge wir beten sollen." Wir beten um vieles, und haben für vieles
Bedarf und um vieles müssen wir bitten, weil wir so vieles brauchen. Aber was ist die
Reihenfolge, was sind die Prioritäten? Das "Vater unser" gibt uns die richtigen
Prioritäten, die richtige Reihenfolge unserer Bitten und deshalb sagt der hl. Thomas:
"Es ist nicht nur das vollkommenste Gebet, weil es vom Herrn uns gegeben worden ist,
weil er es uns gelehrt hat, sondern, eben weil es auch dadurch, dass es uns die richtige
Reihenfolge des Betens sagt, unser ganzes Gemüt, unser ganzes Inneres prägt,
formt." Das "Vater unser" ist gewissermaßen die Schule unseres Betens,
aber auch unseres Gemüts, es formt unser Herz dadurch, dass es die Dinge in die richtige
Reihenfolge bringt und uns so gewissermaßen nach dem Bild und Herzen Gottes prägt. Es
ist also schon daher von einer solchen Kraft, weil es das Gebet mit den richtigen
Prioritäten ist. Anderswo hat Jesus ja gesagt: "Sucht zuerst das Reich Gottes und
alles andere wird Euch dazugegeben!" Aber die Kraft dieses Gebetes kommt nicht nur
daher, dass es die Prioritäten, die Reihenfolge, richtig setzt, es kommt auch daher,
dass
es der Ausdruck des Gebetes, des Heiligen Geistes in uns ist. " Abba", Vater
sagen können wir nur im Heiligen Geist, das heißt, dieses Gebet ist eigentlich so etwas
wie ein Atmen des Heiligen Geistes in uns, es ist das Gebet, das der Geist den Kindern
Gottes eingibt und deshalb hat es so eine Kraft, weil es nicht nur unser Gebet ist,
sondern weil es, wie der hl. Paulus einmal sagt, das unaussprechliche Seufzen des Heiligen
Geistes in uns ist. Wir wissen nicht, wie wir beten sollen, aber der Geist tritt für uns
ein, mit unaussprechlichem Seufzen. "Abba!" "Vater!", das sagt der
Heilige Geist in uns. Ich werde dann noch auf die Frage zurückkommen, was
"Abba" sagen eigentlich heißt, was das für unser Beten bedeutet. Schließlich
kommt die Kraft dieses Gebetes daher, dass es das Gebet der Kirche ist, die ganze Kirche
betet dieses Gebet. Schon allein zahlenmäßig können wir sagen, die ganze Kirche betet
das "Vater unser", überall auf der Welt, alle Christen. Es verbindet uns über
die Grenzen der Konfessionen hinweg. Aber auch in dem Sinn, dass es das Gebet der Kirche
ist, dass es eben die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kinder Gottes sind, die dieses
Gebet sprechen, das gibt ihm seine besondere Kraft.
Die Kirche hat das Jahrhunderte
lang dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie bei den erwachsenen Taufkandidaten die
Übergabe des "Vater unser" als einen speziellen Akt vorgesehen hat: Die "Traditio",
die Übergabe des "Vater unser". So wie man das Glaubenbekenntnis als
Taufkandidat anvertraut bekommt, um zu wissen und zu kennen und von innen her aufzunehmen,
was der Glaube ist, so bekommt der Kandidat für die Taufe das "Vater unser"
anvertraut. Und dann gibt es den Ritus der "Redditio", dass man das Gelernte
wieder zurückgibt, dass man es dann zum ersten Mal öffentlich auch vor den anderen
bekennt. So ist das "Vater unser" auch ein Grundpfeiler der christlichen
Katechese. Nicht umsonst lernen die Kinder bereits das "Vater unser". Es gehört
zu den Grundgebeten des Christentums und es ist eine der Grundsäulen, einer der Pfeiler
der kirchlichen Katechese. Darum haben die Kirchenväter, die großen Theologen, so oft
das "Vater unser" ausgelegt. Mit dem Glaubensbekenntnis, später dann auch mit
dem "Ave Maria", mit dem "Gegrüßet seist du Maria" zusammen, haben
sie das "Vater unser" kommentiert.
Jetzt noch eine letzte einleitende Bemerkung: Das "Vater
unser" hat auch deshalb so eine Kraft, weil es ein Gebet der Sehnsucht nach der
Wiederkunft des Herrn ist. Nicht nur diese drei großen Rufe: "dein Wille geschehe,
dein Reich komme, dein Name werde geheiligt", diese Sehnsuchtsrufe des "Vater
unser" sind ja auch Rufe nach der Wiederkunft des Herrn, sie sind Sehnsuchtsrufe nach
dem Reich Gottes. Und deshalb beten die Christen dieses Gebet bis Er wiederkommt und wir
können auch sagen, dass Er wiederkommt, damit Er wiederkommt. Darf man bitten darum,
dass
der Herr wiederkommt? Darf man darauf hoffen, dass Er bald kommt? So wie es am Ende der
Geheimen Offenbarung heißt: "Komm Herr, komme bald!" Und die Antwort, die Jesus
gibt: "Amen, ja, ich komme bald!" Darf man das? Ist das ein zu apokalyptischer
Wunsch? Ich glaube, die Christen haben sich zu recht von Anfang an danach gesehnt,
dass
der Herr wiederkommt, aber in diesem Sehnsuchtsruf ist nicht nur die Sehnsucht,
dass Er
wiederkommt, sondern auch, dass wir zu ihm kommen, also die Sehnsucht nach unserer
Heimkehr. Im "Vater unser" liegt so etwas wie eine Hoffnung auf die Heimkehr in
das Haus des Vaters. Nicht umsonst betet man auch mit den Sterbenden das "Vater
unser". Es ist das Gebet der Heimkehr. Also ein großer Sehnsuchtsruf.
Und diesem Sehnsuchtsruf möchte ich heute nachgehen, möchte
eigentlich vor allem und fast ausschließlich das erste Wort betrachten, das Wort
"Vater", denn es ist ein Wort, mit dem wir uns heute nicht so leicht tun und
gleichzeitig ist es das Wort, das Jesus gesprochen hat, wenn er am innigsten von Gott
gesprochen hat: "Abba - Vater." Ich möchte also heute ein wenig darüber
sprechen, was wir mit diesem Wort "Vater unser im Himmel" sagen. Wie wir es
beten, was es in uns für ein Echo auslöst und wie wir gewissermaßen in diese Bitte ein
Leben lang hineinwachsen können. Es ist ja noch nicht eine Bitte, sondern ein Anruf, ein
Zuruf. Es ist aber auch gleichzeitig ein Bekenntnis und eine Bitte, dass Gott unser Vater
sei und damit, dass wir ihm Kinder sind, seine Söhne und Töchter.
Also die Frage: Wie können wir Gott "Vater" nennen, ist
"Vater" der Name für Gott, nicht einfach einer unter vielen? Es gibt viele
Gottesnamen, einer ist "Vater", aber trifft dieser Name zu? Ist Gott nicht
vielmehr Geheimnis und sind nicht die vielen Namen, die man ihm gibt, letztlich alle nur
Versuche, das unnennbare, unaussprechliche Geheimnis anzusprechen? "Abba -
Vater." Offensichtlich hat Jesus, wenn er zu Gott spricht, wenn er betet, und er
betet ja oft, mit dem Wort "Abba" das Innerste seiner eigenen Welt geäußert,
seines Geheimnisses, er nennt Gott - "Abba". Wie sollen wir ihn nennen? Sollten
wir ihn nicht auch Mutter nennen? Warum nur Vater? Warum nur "Vater unser" und
nicht "Mutter unser" sagen? Wäre es nicht eine Möglichkeit, ein
patriarchalisches Gottesbild zu überwinden, wie manche meinen, oder ein patriarchalisches
Weltbild, wo eben in einer Männerwelt auch Gebete von Männern formuliert sind, und daher
eben die Einseitigkeit von Männern haben. Ich will damit nicht behaupten,
dass nur die
Männer einseitig sein können. Nun, wie steht das mit dem Vater-Namen, im biblischen
Sprechen von Gott? Machen wir uns nicht unsere Gottesbilder nach unseren Erfahrungen?
Es gibt einen Spruch eines alten griechischen Philosophen, der etwas
zynisch sagt: Die Äthiopier haben schwarze Götter, wir haben weiße Götter. Jeder
stellt sich seine Götter nach seiner Kultur, nach seinen Vorstellungen vor, Gottesbilder
nach Menschenbildern. Dazu kommt, dass die Vatererfahrung oft eine belastende ist, wir
haben alle Vater und Mutter. Viele Menschen haben heute belastende Erfahrungen über
Vaterschaften, auch über Mutterschaften. Es heißt über Martin Luther: Der junge Martin
Luther, als er zum Priester geweiht worden ist und seine erste hl. Messe feiern wollte,
hat es nicht übers Herz gebracht, hat es nicht über die Lippen gebracht, das
Eucharistische Hochgebet zu sprechen, das beginnt mit den Worten: "Te igitur
clementissime pater" - "Dich also, allergütigster Vater, bitten wir durch Jesus
Christus, deinen Sohn". Und wie er bei diesem Wort "Clementissime Pater",
"allergütigster Vater", angelangt war - so hat er selber einmal erzählt - da
konnte er nicht weiter, da hat er gestockt! Wohl deshalb, meinen seine Biographen, weil er
selber einen sehr autoritären Vater hatte, einen Vater, vor dem er sich gefürchtet hat.
Vielleicht hatte er von daher diese Angst, Gott "Vater" nennen zu können, zu
sollen. Und der Priester, der neben ihm stand und ihn begleitet hat bei dieser ersten hl.
Messe, hat ihn gedrängt, er solle weiterbeten und er konnte es nicht über die Lippen
bringen, dieses "Dich, allergütigster Vater". Und dann sagt Luther: Aber als er
dann gesehen hat: "Durch Jesus Christus bitten wir dich", da hat er sich getraut
weiter zu beten, weil Christus für ihn gewissermaßen der Schutz, fast möchte man sagen,
der Schild gegenüber einem Vater war, vor dem er Angst gehabt hat.
Wie viele solche Erfahrungen gibt es im Religiösen, aber auch in der
Lebensgeschichte von Menschen? Ich nenne nur ein Beispiel unter vielen: Franz Kafka, der
Schriftsteller, hatte eine solche erschreckende, schreckliche Vatererfahrung, von einem
übermächtigen, überautoritären und wohl oft auch sehr ungerechten Vater, der diesen
zartfühlenden Sohn erdrückt, nicht aufkommen lassen hat. Heute ist es noch eine andere
Schwierigkeit, die dazu kommt: Nicht so sehr der übermächtige Vater, als der abwesende
Vater! Wie viele wachsen auf ohne Anwesenheit, ohne die wirksame Gegenwart des Vaters! Man
spricht heute von der "vaterlosen Gesellschaft" in der wir leben oder auf die
wir uns zubewegen und so kommt immer wieder die Frage: Kann man überhaupt heute
"Vater unser" beten, ist das nicht zu belastend? Gibt es genügend positive
Erfahrung, um Gott "Vater" nennen zu können, damit dieses Wort, sozusagen ein
Echo der Freude, des Vertrauens, der Zustimmung auslöst?
Nun darf man sicher nicht übersehen, dass es auch heute sehr wohl
positive Vatererfahrungen gibt. Ich denke hier wieder an eine Biographie, eine
Lebensgeschichte, die der rumänische Priester und Schriftsteller Virgil Gheorghiu
schreibt: Wie er als allererste Kindheitserinnerung sich als kleines Kind im Bett liegend
sieht, über sich das Gesicht seines Vaters, der orthodoxer Priester mit einem großen
Bart war - wie es sich für einen orthodoxen Priester gehört. Und dieses Gesicht,
dass
sich über sein Bett beugt und damit - so schreibt Virgil Gheorghiu - ein unendliches
Gefühl des Glücks und des Vertrauens auslöst: Der Vater ist da. Auch das gibt es und
wir dürfen uns nicht nur darauf beschränken, die heute so stark analysierten und sicher
auch vorhandenen Probleme der Vaterbeziehung in den Mittelpunkt zu stellen. Es gibt auch
die Erfahrung in geistlicher Vaterschaft, und sie sind heute nicht weniger stark als in
früheren Jahrhunderten. Für wie viele Menschen, weit über den Raum der Kirche hinaus,
war Pater Giovanni wirklich ein Papa! Giovanni, der Papst Johannes XXIII., wo die
Väterlichkeit in einer so ganz lauteren, klaren Weise zum Ausdruck gekommen ist. Und wenn
ich an das Weltjugendtreffen in Paris zurückdenke, wo am Schluss Kardinal Staffort zum
Heiligen Vater gesagt hat: "Heiliger Vater, warum kommen so viele junge Menschen, um
mit Ihnen zusammen zu sein, mit Ihnen zu beten, Sie zu hören, mit Ihnen zu feiern? Weil Sie
ein Vater sind!"
Und das ist sicher einer der tiefen Gründe, warum unser Heiliger Vater
eben doch wirklich Heiliger Vater genannt werden darf. Nicht im Gegensatz zu dem, was
Jesus gesagt hat: "Ihr sollt euch nicht Vater nennen, denn einer ist euer Vater im
Himmel, der im Himmel, ihr alle seid Brüder und Schwestern", sondern weil in solchen
Menschen etwas vom Geheimnis des Vaters, das Geheimnis der Vaterschaft Gottes zum Ausdruck
kommt. Ich bedaure es, dass in der deutschen Sprache uns etwas abgeht. In fast allen
Sprachen der Welt wird der Priester mit dem Wort "Vater" angesprochen: Vater,
padre, ich erinnere mich an den Besuch in Ecuador im letzten Jahr, wie oft bin ich
angesprochen worden, "Padre una benedicion!" - "Vater geben sie mir einen
Segen!". Bei uns in Wien wird man als "Herr Hochwürden", "Herr
Pfarrer", oder "Herr Prälat" und ähnlichen Anreden angesprochen. Aber
diese einfache Ausdrucksweise, in der man den Priester, auch den Bischof, wie es in vielen
Ländern üblich ist, einfach als "Vater, padre" anspricht, das geht uns ab. Und
ich glaube, damit geht uns etwas verloren von dem, was im Glaubensleben so wichtig ist,
nämlich die geistliche Vaterschaft. Nun, wie dem auch sei, Gott ist Vater in einer ganz
anderen Weise, er ist ganz anders Vater als alle menschliche Vaterschaft und als alle
menschliche Mutterschaft. Ich muss jetzt doch einen kleinen Ausflug machen in das, was die
Theologie zum Reden über Gott sagt. Unsere Worte, mit denen wir über Gott sprechen, sind
natürlich alle aus der menschlichen Erfahrung genommen, es gibt kein Wort, das nicht
irgendwo ein Erfahrungsecho hat, wenn wir z.B. Gott als "gut" bezeichnen, dann
meinen wir damit durchaus etwas, was wir aus der Erfahrung kennen, wenn wir sagen, er ist
weise, er ist mächtig, er ist gütig, er ist die Liebe. Alles das kommt aus der
menschlichen Erfahrung, aber es geht über sie hinaus. Unsere Worte, mit denen wir von
Gott sprechen, zielen gewissermaßen auf Gott, die Richtung stimmt, aber sie zielen
gewissermaßen ins Dunkel des Geheimnisses hinein. Sie genügen sicher nicht, sie stimmen
in der Richtung, aber sie können das Geheimnis nicht ausloten und deshalb müssen wir
immer dazu sagen: Aber Gott ist ganz anders!
Gott ist gut, aber seine Güte ist ganz anders als menschliche Güte.
Auch wenn menschliche Güte irgendwie ein Abbild der Güte Gottes ist, was sagen also die
menschlichen Worte, die wir für Gott gebrauchen, warum sagen wir, Gott ist Vater? Nun,
die Zielrichtung dieses Wortes, gewissermaßen von unserer Erfahrung aus, in das Geheimnis
Gottes hinein, ist sicher zuerst einmal, dass wir den Ursprung ansprechen. Gott ist
Ursprung, der Vater ist der Ursprung. Nur hier ist schon der Unterschied: Er ist es nie
alleine, der menschliche Vater ist nicht Vater ohne die Mutter. Gott ist Ursprung
schlechthin, alles kommt von ihm, er ist der Anfang ohne Anfang, der Ursprung ohne
Ursprung. Und insofern gilt das Wort Vater auf dieses Geheimnis hin, das wir nur
ansprechen, aber nicht aussprechen können.
Und ein Zweites: Wenn wir vom Vater sprechen, dann meinen wir zurecht
immer auch Autorität. Dass er der ist, der etwas wachsen lässt, Autorität kommt ja aus
dem Wort "Auctoritas", das, was etwas Wachsen lässt; aber das setzt voraus,
dass hier etwas Festes, etwas Bestimmtes ist, an dem etwas Wachsen kann. Autorität heißt
auch jene Stärke, jene Kraft, an der etwas Wachsen kann. Wir wissen das aus der Erfahrung
der Erziehung, wenn Autorität im guten Sinne ausgeübt wird, dann ist da eine Kraft, an
der junge Menschen wachsen können, manchmal im Widerstand, manchmal indem sie sich daran
reiben, mehr aber noch dadurch, dass die Autoritäters den Bezug zur Wirklichkeit
sicherstellen, einem das sichere Gefühl für das Wirkliche geben. Die Psychologen sagen
zurecht, dass der Vater in der Erziehung des Kindes so etwas wie den Wirklichkeitsbezug
darstellt, nicht nur die Grenzen, an die man stößt, die Grenzen, die unbedingt notwendig
sind, damit man sich nicht verläuft, sondern vor allem eben die Wirklichkeit und nicht
die eigene Form von Fantasie oder Vorstellung. Ich werde darauf gleich noch einmal
zurückkommen.
Das Wort Vater spricht aber in der menschlichen Erfahrung auch die
Fürsorge an: Der, der auf uns schaut, die Liebe zu den Kindern, auch die Güte. Nun kann
man sagen: Aber das gilt doch alles auch vom Mutterbild, auch die Mutter hat das alles und
das stimmt zu mindest im Großen und Ganzen. Beide Eltern, Vater und Mutter, sind sowohl
Autorität wie Ursprung, die Güte, Fürsorge für das Kind. Und deshalb sagt ja auch die
Bibel manchmal, dass Gott wie eine Mutter ist, wenn es bei Jesaja im letzten Kapitel
heißt: "Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch". Und einmal
gebraucht ein Psalm dieses Bild: Wie das Kind bei der Mutter ruht, so ist meine Seele bei
Gott in Frieden. Mutter- und Vaterschaft, Elternschaft, beides ist der
Erfahrungshintergrund für unser Gottesbild.
Nicht umsonst kommt das vierte Gebot unmittelbar nach den drei ersten.
Nach denen, die sich auf Gott beziehen, kommt als viertes Gebot gleich als erstes ein
Gebot für unsere Beziehung zum Nächsten: Du sollst Vater und Mutter ehren! Sie sind die
ersten Bilder Gottes in unserem Leben. Sie sind die ersten Repräsentanten Gottes für
uns. Nun wissen wir - und ich habe es vorhin schon einmal angesprochen -,
dass unsere
Erfahrung, unsere menschliche Erfahrung mit Vater und Mutter, das Bild der Vaterschaft und
der Mutterschaft, oft ein Verletztes, Belastetes, manchmal auch Entstelltes ist, und
dass
es deshalb tatsächlich nicht immer einfach ist, Gott als Vater anzurufen. Aber hier ist
nun der entscheidende Punkt: Wenn wir von Gott von unserer Erfahrung aus sprechen, dann
müssen wir immer auch dazu sagen, Gott ist nicht nach unserem Bild, sondern wir sind nach
Gottes Bild. Wir sind Abbild Gottes und nicht Gott unser Abbild. Und noch etwas ganz
Wichtiges müssen wir sagen: Gott ist weder Mann noch Frau, Gott ist jenseits der
Geschlechterunterscheidung, er ist Gott und nicht Mensch. Aber Mann und Frau spiegeln
etwas von Gott wieder, sie sind gewissermaßen in ihrem Mannsein und Frausein Abbild
Gottes, Gott ist der Ursprung von Mann und Frau, von Vaterschaft und Mutterschaft, und er
ist deshalb auch das Maß dafür. Paulus sagt einmal, von ihm kommt alle Vaterschaft auf
Erden, von ihm, Gottvater, kommt alle menschliche Vaterschaft und natürlich auch alle
menschliche Mutterschaft.
Wie ist also Gott Vater? Es gibt ein wunderbares Wort bei Tertullian,
einem frühen christlichen Autor, so knapp kann man das auf Deutsch gar nicht sagen, wie
er es auf Lateinisch sagt: "Nemo tamquam Deus pater." "Niemand ist so Vater
wie Gott Vater ist." Kein Mensch ist so Vater wie Gott Vater ist. Und wenn wir das
"Vater unser" beten, dann müssen wir zuerst sagen, wir kennen den Vater noch
gar nicht oder wir sind erst am Anfang, wir sind am Weg dazu, ihn zu kennen. Jesus sagt
einmal, niemand kennt den Vater, außer der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Wenn
wir also "Vater unser" beten, dann beten wir das Geheimnis an, das wir erst
kennen lernen: Du bist unser Vater.
Und so fragen wir jetzt im letzten Abschnitt dieser Katechese: Wie
kommen wir dazu, den Vater zu kennen? Niemand kennt den Vater, nur der Sohn. Oder wie es
im Prolog des Johannesevangeliums heißt: "Niemand hat Gott je geschaut, nur der Sohn
hat Kunde gebracht." Das heißt, wir müssen auf unserem Lebens- und Glaubensweg erst
Gott Vater kennen lernen. Wem offenbart Jesus den Vater? Er sagt es ganz klar: Den
Unmündigen. Die Unmündigen verstehen es, denen ist es aufgegangen, die wissen, was es
heißt "Vater unser". Die Unmündigen, was ist dazu notwendig,
dass wir solche
werden? Zuerst sicher die Demut, wenn wir nicht demütig sind, demütig werden, dann
werden wir auch Gott nicht als unseren Vater kennen lernen. Wie lernt man die Demut? Ein
alter erfahrener Priester hat einmal gesagt, die Demut lernst du nur durch Demütigungen.
Ein Wort, das jeder mitnehmen kann. Die Demut lernen wir aber auch vor allem durch das
Vertrauen, das Vertrauen, das ja dem Wort Vater entspricht. Wenn wir vertrauen wie Kinder,
dann lernen wir den Vater kennen.
Wie kann unser Vertrauen zu Gott, unserem Vater, wachsen? Zuerst einmal
durch die Bitte, dass er sich uns zu erkennen gibt, dass wir kennen lernen, was es heißt,
dass er unser Vater ist. Das erfordert eine Läuterung unserer Gefühle, unserer
Vorstellungen, die sehr oft noch geprägt sind von einem tief sitzenden Misstrauen gegen
Gott. Dieses Misstrauen, dass er mir nicht gut will, gilt es zu überwinden durch das
Vertrauen: Du bist mein Vater. Am besten dadurch, dass wir immer wieder die Bitte
wiederholen "dein Wille geschehe", so wie Jesus gebetet hat in Getsemani:
"Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine". Durch dieses Wiederholen des
Aktes des Vertrauens, der Bitte "Dein Wille geschehe", läutern sich auch unsere
Vorstellungen, unsere Gefühle, und wir werden allmählich den Vater kennen lernen.
"Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir!", betet der hl. Nikolaus von der
Flüe. Vertrauen lernen wir auch durch das Vertrauen in seine Vorsehung, indem wir mit der
Bitte: "Dein Wille geschehe!", uns immer neu und bestimmt in seine Hand geben.
Nichts geschieht ohne dich, alles ist in deiner Hand, vorbehaltlos lege ich mich in deine
Hand.
Es gibt ein schönes Gebet der hl. Edith Stein, ein Morgengebet, wo sie
das sagt: "Ohne Vorbehalt lege ich diesen Tag in deine Hand". Vertrauen in die
Vorsehung, das heißt zuerst einmal das Vertrauen, dass nichts geschieht ohne seine
Zulassung, ohne seine Fügung, und dass ich vorbehaltlos seinen Wegen vertrauen kann. Aber
Vorsehung heißt auch wahrnehmen, dass er uns vertraut und das ist vielleicht etwas, das
wir im NT - und das heißt ja vor allem in Jesus selber - ganz besonders deutlich sehen.
Wir sollen dem Vater vertrauen, aber Gottes Vaterschaft zeigt sich ja besonders darin,
dass sich er uns vertraut, dass er uns unglaublich viel zutraut, die Gleichnisse von den
Talenten sprechen das an, Gott hat uns die Talente in die Hand gegeben und er lässt uns
wirken damit, er schenkt uns Vertrauen. Der verlorene Sohn. In diesem Gleichnis kommt uns
das Vertrauen des Vaters entgegen, er gibt ihm sein Erbteil, er lässt ihn machen, er
traut es ihm zu. Die vielen Gleichnisse von den Pächtern, die uns etwas vom Vertrauen
Gottes zu uns sagen, im Tiefsten ist es das Vertrauen, das Gott seinem eigenen Sohn
gegenüber hat. Er hat ihm alles in die Hand gelegt und deshalb heißt Reinigung unserer
Vorstellungen von Gott, unseres Misstrauens gegen Gott, auch das immer tiefer Entdecken,
wie wunderbar sein Vertrauen in uns ist.
Ein Vater vertraut seinen Kindern, er traut ihnen etwas zu, er ist
nicht ängstlich ihnen gegenüber, er lässt sie sein, er lässt sie leben und indem er
ihnen etwas zutraut, lässt er sie wachsen. Jeder gute Pädagoge geht so vor, nicht,
dass
er ängstliche Zäune zieht um die, die er erziehen soll, sondern indem er sie in ihrem
Wachsen ermutigt, ihnen mehr zutraut, als sie sich vielleicht, sicher sogar, selber
zutrauen. Du kannst es, tu es nur, trau dich, das ist Auctoritas, das ist wachsen lassen!
Und so ist Gott der Vater mit uns, nur so können wir dieses unglaubliche Wort Jesu
verstehen, dass es dem Vater gefallen hat, uns sein Reich anzuvertrauen, er hat uns alles
in die Hand gelegt, uns anvertraut. Wenn wir das Vertrauen in die Vorsehung Gottes so
sehen, dann hat es diese beiden Seiten: Einerseits die Hingabe an die Vorsehung, das
völlige Vertrauen, dass das, was aus seiner Hand kommt, gut ist, auch wenn es schwer ist,
auch wenn es Leid bedeutet und auf der anderen Seite das Vertrauen in das Vertrauen Gottes
zu uns.
Ich glaube, alle großen Werke in der Kirche sind durch ein solches
Vertrauen entstanden, dass Menschen sich auf das Vertrauen Gottes zu ihnen eingelassen
haben. Ich nenne nur ein Beispiel, man könnte Hunderte nennen, Cotolengo in Turin, der
mit nichts begonnen hat und im völligen Vertrauen auf die Vorsehung Unglaubliches für
die Kranken, die Behinderten, die Armen geleistet hat, er hat Großes gewagt, weil er
weiß, dass Gott sein Vater ist und ihm zutraut, dass er das kann und so ist es, dieses
gegenseitige Vertrauen, das wir im "Vater unser" lernen, das Vertrauen,
dass
Gott uns gut will und das Vertrauen des Vaters in uns, der uns Großes zumutet und
zutraut.
Dazu gehört freilich auch, als Schule des Vertrauens, die Erfahrung
der Prüfungen. Immer wieder heißt es in der Bibel, dass Gott sich gerade darin als Vater
erweist, dass er uns prüft. Ein Vater prüft seinen Sohn, ja die Schrift sagt sogar, er
züchtigt seinen Sohn und darin zeigt sich auch seine Güte, seine Vaterschaft, er hat
seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns hingegeben. Wie kann in den
Prüfungen, in den Leiden, das Gottesbild als Vaterbild bestehen, wenn wir an die Bilder
dieser Tage denken und daran, was kein Bild erfasst, was in den Lagern geschieht, im
Kosovo, unvorstellbares Leid an Männern und Frauen. Solche Grausamkeiten! Wie kann man
dann noch von Gott als unserem Vater reden? Aber vielleicht ist gerade in dieser
Situation, in dieser äußersten Not das "Vater unser" auch ein Hilferuf, ein
Ruf der letzten Hoffnung, so wie Jesus in Getsemani in der größten Todesangst, in der
größten Bedrängnis, "Abba" gesagt hat, Vater, Vater! In diesem Gebet Jesu, im
Abba-Ruf Jesu in Getsemani ist aller Menschen Not hinein genommen und
dass wir ihn gerade
in der Not Vater nennen dürfen, weil Jesus ihn so angerufen hat. Abba, Vater!
Ich möchte zum Schluss ein Gebet sprechen, das Charles de
Foucauld geschrieben hat und das die Gemeinschaft, die sich auf ihn als ihren Gründer
zurückführt, die kleinen Schwestern Jesu, die kleinen Brüder Jesu, das sie jeden Abend
beten, das Gebet des völligen Vertrauens in Gott Vater. Ich lade Sie ein,
dass wir dieses
Gebet, auch im Sinne des zuletzt Gesagten, beten, gerade im Blick auf die, die so
Schreckliches zu erleiden und zu erdulden haben, auch jetzt in diesen Stunden,
dass für
sie der Ruf "Abba, Vater" ein Hilfe- und ein Hoffnungsruf sei. Das Gebet lautet:
"Mein Vater, ich überlasse mich dir. Tue mit mir nach deinem Gefallen, was immer du
tun magst mit mir. Ich danke dir. Ich bin bereit zu allem, ich nehme alles an, wenn nur
dein Wille in mir geschieht und in all deinen Geschöpfen. Ich habe kein anderes
Verlangen, mein Gott, ich lege meine Seele in deine Hände, ich gebe sie dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich dich liebe und aus Liebe danach verlange
mich hinzugeben, mich in deine Hände zu legen ohne Maß, mit einem unendlichen Vertrauen,
denn du bist mein Vater."
Es segne Euch der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn, und der
Heilige Geist. Amen.
Gelobt sei Jesus Christus!