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Ruf Gottes - Katechese

Kardinal Dr. Christoph Schönborn - Katechesen
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Ich, Kardinal Dr. Christoph Schönborn, begrüße sie und möchte sie einladen, meine Katechesen zu lesen.

Katechesen 1998/1999
3
. Jahresreihe - 2. Katechese, 11.10.98

Ruf Gottes

Ruf Gottes

"Komm Heiliger Geist, der du durch dein unaussprechliches Seufzen unser Gebet lenkst und lehrst. Führe uns ein in die Welt des Gebetes, schenke uns immer größere Sehnsucht nach dem Gebet, sei du unser Beten, sei du das Sehnen unseres Herzens. Heilige Edith Stein, bitte für uns!"

Liebe Brüder und Schwestern, liebe Jugendliche und auch weniger Jugendliche, die Sie zur zweiten Katechese gekommen sind, in dem gemeinsamen Wunsch, tiefer in die Welt des Gebetes einzu- dringen. Vor drei Wochen haben wir uns in der ersten Katechese ein wenig mit der Ursehnsucht des menschlichen Herzens befasst, der Sehnsucht nach Gott, der Sehnsucht nach dem Gebet, als einer Wirklichkeit, die in jedem Menschen mehr oder weniger ausdrücklich, oft verschüttet, aber doch immer da ist, weil unser Herz, unsere Seele, wie Augustinus sagt, "auf Gott hin geschaffen ist und deshalb unruhig ist, bis sie ruht in Ihm".

Heute möchte ich aber einen weiteren Schritt tun. Das Gebet ist nicht nur Sehnsucht des Menschen, es ist zuerst ein Ruf Gottes. Ich möchte versuchen, ein wenig über die Offenbarung des Gebetes zu sprechen.

Ich beginne mit einem Wort der kleinen hl. Theresia, das am Anfang des Kapitels im Katechismus über das Gebet steht. Thérèse sagt einmal in ihren autobiographischen Schriften: "Für mich ist das Ge- bet ein Aufschwung des Herzens, ein schlichter Blick zum Himmel, ein Ausruf der Dankbarkeit und Liebe inmitten der Prüfung und in- mitten der Freude". Was Thérèse damit ausspricht, anspricht, dieser Aufruf, dieser Ausruf des Herzens, dieser Aufschwung des Herzens, was sie damit gelebt hat und was sie uns damit sagt, das ist wohl nur verständlich aus der Sicht des Glaubens. Und deshalb möchte ich heute versuchen zu beginnen, das Gebet aus der Sicht des Glaubens zu betrachten, während wir ja letztes Mal, im Vorfeld des Gebetes geblieben sind, im Raum dessen, was die natürliche Anlage des menschlichen Herzens mitbringt. Wenn wir in die Bibel hineinschauen, so ist der allererste Dialog zwischen Gott und dem Menschen ein Rufen und Suchen Gottes. Das erste Wort, auf das der Mensch direkt antwortet - in der Genesis im ersten Buch der Bibel - ist der Ruf Gottes "Wo bist du, Adam, wo bist du?". Die Antwort darauf wird so etwas wie die Grundform des Gesprächs des Menschen mit Gott sein, wie wir sie so oft erleben. Damit kommt et- was zum Ausdruck, das für das Gebet in gläubiger Sicht entscheidend ist.

Das Gebet ist Antwort, Antwort auf einen Ruf: zuerst ist Gottes Ruf da. Auch bei Jesus ist es so: "Gib mir zu trinken", sagt Jesus zur Samariterin. Er bittet, er sucht. Damit weckt er in ihr die Sehnsucht, nach dem lebendigen Wasser. Ich möchte heute über die Offenbarung des Gebetes sprechen. Offenbarung des Gebetes, so nennt der Katechismus dieses Kapitel und sagt damit etwas ganz Entscheidendes für die gläubige Sicht des Gebetes. Es ist zu- erst nicht etwas, was wir leisten, sondern was Gott in uns weckt, was er uns schenkt. Das Gebet ist Gabe und dann erst Antwort. Im Katechismus heißt es hier: "Bevor der Mensch nach Gott ruft, ruft Gott den Menschen" (KKK 2567). Beim Beten, heißt es, geht die Bewegung der Liebe des treuen Gottes zuerst von Ihm aus. Die Bewegung des Menschen ist immer Antwort. In dem Maß, in dem Gott sich offenbart und den Menschen sich selbst zu erkennen gibt, er- scheint das Gebet als ein gegenseitiger Zuruf, als ein Geschehen des Bundes, das durch Worte und Handlungen das Herz miteinbe- zieht. Ein gegenseitiges Geschehen des Bundes, ausgehend von Gottes Ruf und dann des Menschen Antwort. Das ist nun der Raum, den wir in den folgenden Katechesen betreten möchten. Ich hoffe, dass wir von Katechese zu Katechese tiefer in diesen Raum hinein- kommen, in dieses Geheimnis des Gebetes.

Gott offenbart sich den Menschen, das heißt, Er macht sich uns vertraut, Er macht sich uns bekannt. Wir dürfen mit Ihm vertraut wer- den, wir dürfen Ihn finden und gleichzeitig immer mehr suchen und immer mehr finden, bis wir Ihm ganz begegnen, ganz so wie Er ist, Ihn schauen von Angesicht zu Angesicht. Auf dem Weg des Gebetes dürfen wir Gott kennen lernen, wie Er sich uns zu erkennen gibt. Gleichzeitig aber ist auf diesem Weg Gott, der sich offenbart, aber auch der, der sich verhüllt. Zu Moses spricht Er in der Wolke, zu Elia im Säuseln, Er offenbart, sich und Er bleibt doch Geheimnis und deshalb wird das Suchen, je mehr Er sich offenbart, umso größer. Die Sehnsucht wächst in dem Maß, wie wir Ihm begegnen oder wie Er sich uns zu erkennen gibt und wir in dieses Bekanntwerden mit Ihm eintreten. Die hl. Theresia von Avila, deren Fest wir diese Woche feiern werden, beschreibt diesen Weg als den Weg in die Seelenburg, in der es weite, viele und auch verborgene Gemächer der Seele gibt, bis hin zu diesem letzten, innersten Ge- mach, in dem die Seele Gott ganz findet. Möge diese Katechese - und die folgenden - in uns, in Ihnen, auch in mir, die Sehnsucht wecken, das Antlitz des Herrn zu suchen, wie der Psalm sagt: "Dein Antlitz suche ich Herr, um Ihm zu begegnen." Wo dieses Suchen da ist, da ist sicher der Heilige Geist am Werk. Er ist der große Lehrer des Gebetes. Paulus sagt, er betet mit unaussprechlichen Seufzern in uns. Wir wissen nicht, wie wir beten sollen, er tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern, er ist der Lehrmeister des Gebetes. Und er soll uns auch jetzt in dieser Katechese tiefer in die Freude des Gebetes einführen und uns auch zum Kampf des Gebetes rüsten. Heute soll also die Offenbarung des Gebetes thematisiert werden und ich beginne mit dem Alten Testament, der Offenbarung des Gebetes im Alten Testament. Dazu aber zwei Vorbemerkungen: "Was heißt also Offenbarung?" und die Frage, "Was für eine Bedeutung hat für uns das Alte Testament?"

1. Was heißt "Offenbarung"?
Unser Glaube beruht nicht einfach auf Vernunfteinsicht. Zwar hat die Vernunft ihren Platz im Glauben, glauben ist nicht unvernünftig. Wir glauben durchaus auch mit guten Gründen und man wundert sich oft, wie sehr irrational der Unglaube ist. Aber unser Glaube beruht nicht auf der Vernunft, er schließt sie nicht aus, aber der Grund unseres Glaubens ist nicht das, was wir selber erkennen können. Der Grund unseres Glaubens ist auch nicht das, was wir fühlen, spüren, obwohl es sehr wichtig ist, dass wir auch im Glauben er- spüren, dass es ein "Gespür" des Glaubens gibt, einen Instinkt des Heiligen Geistes. Auch durchaus ein Angesprochensein der Emotion, der emotionalen Schichten unseres Inneren. Aber der Glaube beruht nicht auf dem Gefühl, so dass, wenn ich nichts spüre, ich den Eindruck haben müsste, ich glaube nicht, und wenn ich viel spüre, dass ich dann besonders gläubig wäre. Sondern der Glaube beruht auf einer Kunde, die über alles menschliche Wissen hinausgeht. Wir sagen, der Glaube beruht auf der Offenbarung, auf dem, was Gott von sich aus freien Stücken mitteilt, ohne dass wir es von uns aus erschließen oder auch erahnen könnten. Im Katechismus heißt es im Anschluss an das Konzil über die Offenbarung: "Durch einen ganz freien Entschluss offenbart und schenkt sich Gott dem Menschen..." (KKK 50,1).

Wie tut Er es? Indem Er sein innerstes Geheimnis enthüllt, Seinen gnädigen Ratschluss, den Er in Christus für alle Menschen von aller Ewigkeit her gefasst hat. Gott enthüllt Sein innerstes Geheimnis, Er teilt sich selber mit. Das nennen wir Offenbarung. Wie geschieht das, wie teilt Gott sich mit, wie offenbart Er sein innerstes Geheimnis, wie tut Er es kund? Er tut es in einer Pädagogik, in einer weisen, göttlichen Pädagogik. "Gott teilt sich den Menschen stufenweise mit. Er bereitet ihn etappenweise darauf vor, Seine übernatürliche Selbstoffenbarung aufzunehmen" (KKK 53).

Gott bereitet die Menschen vor, Ihn aufzunehmen. Der hl. Irenäus von Lyon, ein früher Kirchenvater - er hat um das Jahr 188 sein großes Werk gegen die Irrlehren geschrieben und ist um 200 als Märtyrer in Lyon gestorben - sagt, um das deutlich zu machen: "Es ist wie ein gegenseitiges Sich-aneinander-gewöhnen". "Gott gewöhnt sich gewissermaßen daran", sagt Irenäus, "beim Menschen zu wohnen, und Er gewöhnt den Menschen daran, Gott auf- zunehmen." Man denkt ein bisschen an den kleinen Prinzen und den Fuchs, wo der Fuchs zum kleinen Prinzen sagt: "Zähme mich, dann können wir Freunde werden." Langsam rücken sie einander näher und lernen sich kennen. Gott offenbart sich stufenweise, etappen- weise. Und diese Stufen gipfeln in der Offenbarung Jesu Christi: "Als aber die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn." Das verborgene Geheimnis, von dem Paulus immer wieder spricht, das von Ewigkeit her verborgene innerste Geheimnis Gottes hat er geoffenbart, indem er Jesus, seinen Sohn gesandt hat. Er ist die Offenbarung Gottes, in Ihm ist das ganze Geheimnis Gottes gegenwärtig, Er ist Gott selbst in seiner Offenbarung. Wenn wir Ihn finden, finden wir Gott. "Wer mich sieht, sieht den Vater", sagt Jesus, Er ist das Geheimnis, das Gott geoffenbart hat. Deshalb mündet der ganze Weg der Offenbarung in Jesus Christus und deshalb werden wir auch, wenn wir weiter über die Offenbarung des Gebetes sprechen, uns vor allem auf Jesus Christus konzentrieren. Aber heute soll es um das Alte Testament gehen und wahrscheinlich noch das nächste Mal, denn es gibt so viel Wunderbares über das AT zu sagen.

2. Was ist die Bedeutung des Alten Testaments?
Wir sind viel zuwenig damit vertraut. Eigentlich müssten wir als Christen im AT ganz zuhause sein. Ich erinnere mich an einen Kartäuserbruder, in der Chartreuse de la Val-Sainte in der Schweiz, wo ich einmal ein Woche verbracht habe (ganz schweigend war es nicht, denn sonst hätte ich nicht den Kartäuserbruder etwas sagen gehört). In einem Gespräch über das AT hat er gesagt: "Im Grunde ist das Alte Testament die große Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen." Wie anders ist oft die Vorstellung vom AT. Da gibt es immer noch, bei uns in Österreich leider sehr verbreitet, die Vorstellung von dem "bösen" Gott des AT oder gar dem rächenden, dem zürnenden Gott des AT, dem gegenüber der Gott des Neuen Testaments ein liebender Gott sei. Nichts wäre falscher als diese Sicht. Es ist nur ein Gott, der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, es ist der wahre Gott. Seine Liebesgeschichte ist vor allem im Alten Bund aufgezeichnet, seine lange geduldige Liebesgeschichte mit der Menschheit. Das NT, das nur diese kurze Spanne des ersten Jahrhunderts, nicht einmal der ersten 67 Jahre umfasst, von Christi Geburt bis zum Tod der Apostel, dieses NT ist, so möchte ich sagen, ohne das AT wie Geigensaiten ohne den Resonanzkasten. Sie klingen nicht, ohne den Hintergrund, den Untergrund, den Resonanzboden des Alten Bundes:

Beide Testamente sind untrennbar. Deshalb sagt der hl. Augustinus, dass das Neue Testament im Alten Testament verborgen ist und dass das Alte Testament im Neuen Testament enthüllt ist, aber beide gehören zusammen. Versuchen wir uns ein wenig auf den langen Weg durch das AT zu machen, die lange Zeit der göttlichen Pädagogik seiner allmählichen Offenbarung. Ich glaube, im AT lernen wir auch sehr viel über die Geduld Gottes und die Geduld, die uns aufgetragen ist, wie geduldig Gott mit seinem Volk vorgeht. Wie sollen wir das AT lesen? Achtung vor allem darauf, es ist unsere Geschichte. Wir lesen das AT nicht als die Geschichte von einem Volk aus dem Vorderen Orient, dem Volk der Hebräer, wir lesen es als unsere Geschichte, weil wir Dazugekommene sind im Volk Gottes. Es gibt nur ein Volk Gottes. Gottes Bund ist ohne Reue, sagt Paulus, und wir sind dazugekommen als die aus den Heiden gekommenen Christen zu dem einen Volk Gottes, dessen Wurzelstock Israel ist. Wenn wir in der Osternacht den Exodus lesen, den Auszug aus Ägypten, dann lesen wir nicht irgendeine ferne Geschichte.

Wir lesen natürlich auch etwas, was vor fast 3.000 Jahren geschehen ist. Wir lesen aber auch das, was heute geschieht, heute zieht das Volk Gottes aus der Knechtschaft Ägyptens aus, wo immer ein Kind oder ein Erwachsener getauft wird. Wenn wir das AT lesen, dann lesen wir die Geschichte des Volkes Gottes, unsere Geschichte. Und wenn wir hören, wie das Volk Gottes in der Wüste murrt gegen Gott, sich zurück sehnt, nach den Fleischtöpfen Ägyptens und den Zwiebeln und den köstlichen Gemüse, dem Lauch und was da alles beschrieben wird in der Erinnerung, dann ist das unser Weg, die wir herausgerufen sind, hineingestellt in das Volk Gottes und die wir uns bisweilen zurücksehnen in das, was wir vergessen haben, wie schrecklich die Knechtschaft der Welt eigentlich ist, aus der wir befreit worden sind, wir sehen uns zurück nach "Ägypten". Wenn wir die Propheten lesen, dann ist es ein Ruf, der an uns ergeht, weil sie zum Volk Gottes sprechen. Die Kirche hat nie das AT verworfen: Als im 2. Jahrhundert ein Häretiker, ein Lehrer der Christen in Rom, Markion mit Namen, aufgetreten ist und gesagt hat: "Endlich müssen wir uns trennen vom AT und nur das NT gelten lassen", da hat ihn die Kirche ausgeschlossen und hat entschieden diese Lehre als Irr- lehre abgelehnt.

Doch nun zum Gebet im AT: Wie wird es dort geoffenbart? Das ganze AT ist eine große Gebetsschule, nicht nur die Psalmen, die wir beten. Ich erinnere aus gegebenem Anlass, da heute Edith Stein heilig gesprochen worden ist, an diese Szene, wie sie mit der jüdisch-gläubigen Mutter in Breslau auch nach ihrer Taufe, in die Synagoge mitgeht. Und wie sie zur Verwunderung der Mutter mit ihrem Gebetbuch die Psalmen mitbetet. Sie hat ja das Brevier, das Stundenbuch der Kirche, und wir beten mit dem jüdischen Volk bis heute die Psalmen, die große Gebetsschule des Volkes Gottes. Alles im Alten Bund ist Gebetsschule. Fangen wir also ganz vorne auf der ersten Seite der Bibel an. Es ist etwas Eigenartiges, wenn Sie die ersten beiden Kapitel der Genesis lesen: Dort spricht der Mensch nie zu Gott. Gott spricht zum Menschen bzw. hält Rat mit sich selbst. Wir wollen den Menschen schaffen nach unserem Bild und Gleichnis. Und er gibt dem Menschen Auftrag, die Schöpfung zu beherrschen. Aber der Mensch spricht nicht mit Gott. Heißt das, dass der Mensch im Paradies nicht mit Gott gesprochen hätte? Ich deute das so, dass es am Anfang gar nicht notwendig war zu beten, weil der Mensch mit Gott völlig vertraut war. Auch im Himmel werden wir nicht beten, wir werden im Himmel schauen. Wir werden mit Gott so verbunden sein, dass wir nicht zu beten brauchen, wir sind in Verbindung, in Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Jetzt sind wir in der Zeit des Gebetes.

Es war also wohl im Paradies, im Urstamm des Menschen vor seinem Sündenfall, bevor er sich von Gott abgewendet und sich selber zugewendet hat, nicht notwendig zu beten, weil der Mensch ganz mit Gott vertraut war. Er hat Ihn geschaut, er hat mit Ihm Umgang gehabt, sie waren einan- der völlig nahe. Einssein mit Gott, das ist das Ziel des Gebetes. Aber dort, wo dieses Einssein vollendet sein wird, im Himmel, wo es ganz erfüllt ist, dort bedürfen wir nicht mehr des Gebetes. Nun das Eigenartige: Das erste Gespräch, das die Bibel berichtet, ist Gottes Ruf nach dem Sündenfall. "Adam wo bist du?" Und da antwortet zum ersten Mal der Mensch. Adam sagt zu Gott: "Ich ver- nahm Deine Schritte im Garten, da fürchtete ich mich, weil ich nackt bin, und verbarg mich". Ich glaube, da ist etwas ganz Wichtiges über das Gebet gesagt. Das Gebet entspringt erst dort, wo der Mensch Gott verloren hat, wo die Vertrautheit mit Gott zerbrochen ist. Der Mensch hat sich vor Gott versteckt, er hat Angst vor Ihm. Flucht vor Gott. Wir kennen es alle, das Sich verbergen vor Gott, weil man nur auf sich selber schaut: "Ich bin nackt, ich habe mich vor Dir gefürchtet." "Adam, wo bist du?"

Der Ruf Gottes ist nicht ein Vorwurf, so wie auch das Wort Gottes an Eva, "Was hast du da getan?" nicht ein Vorwurf ist - so wie die Eltern die Kinder schimpfen: "Was hast jetzt schon wieder angestellt, was hast du dir da einfallen lassen" - sondern es ist der erste Ruf Gottes, der den Menschen wieder zurückrufen will. Fast möchte man sagen, mit einem schmerzlichen Herzen ruft der Vater seine Kinder zurück in die Vertrautheit, die sie verloren haben. So können wir von daher sagen, wo es keinen Mangel mehr gibt, dort wird es auch kein Gebet mehr geben, sondern nur das, was wir im Gebet suchen. Wo wir Gott gefunden haben, wo er sich uns ganz geschenkt hat, dort ist das Gebet in die Schau, in die Vereinigung übergegangen. Dort sind wir nicht mehr im Glauben, sondern in der Schau, dort suchen wir nicht mehr, dort haben wir gefunden oder genauer, dort sind wir gefunden worden. Mit diesem ersten Gespräch beginnt der lange Weg der Offenbarung des Gebetes und alles im AT spricht von dieser Offenbarung des Gebetes. Aber wie wichtig ist es, um den Weg des Gebets zu verstehen, dass wir an die Erbsünde glauben. Ich wundere mich immer wieder, warum es so schwer fällt, an die Erbsünde zu glauben. Vielleicht auch deshalb, weil man davon so falsche Vorstellungen hat. Was heißt das, die Erbsünde? Das heißt doch, dass seit unseren Stammeltern jeder Mensch, der geboren wird, gewissermaßen in einem Mangelzustand geboren wird. Es fehlt uns etwas von Geburt an, nicht das Menschsein. Wir werden als volle und ganze Menschen geboren und doch fehlt uns etwas zum erfüllten Menschsein. Die Erbsünde heißt, wir werden geboren, ohne die ursprüngliche Vertrautheit mit Gott, es fehlt uns das, was der Mensch im Paradies geschenkt bekommen hatte und was er verloren hat, durch die Abwendung von Gott, diese ursprüngliche Vertrautheit mit Gott, die Gott uns geschenkt hat, die er uns wieder schenken will und die uns jetzt fehlt, wenn sie uns nicht geschenkt wird. Erst sie macht den Menschen wirklich ganz.

Leib, Seele, Geist, sagt der hl. Irenäus, Geist, Geist erfüllt, mit dem Heiligen Geist erfüllt, dann erst ist der Mensch ganz, wenn er mit Gott ver- traut ist. Das heißt aber, seit dem Sündenfall und durch die Erbsünde ist jeder Mensch, sind wir alle auf der Suche, ständig auf der Suche, auf vielen Irrwegen, mit vielen Gefahren, mit vielen Wunden. Wir sind auf der Suche, weil uns Gott fehlt und deshalb sind wir in uns zerrissen. Die Genesis sagt das - wir haben es eben gehört - Adam schämte sich, weil er nackt war, die Harmonie zwischen Seele und Leib ist zerrissen oder zumindest gestört. Mann und Frau beschuldigen sich: "Die Frau die Du mir gegeben hast, hat mir zu essen gegeben", der Mann beschuldigt die Frau und Gott gleich mit. Und eine schöne rabbinische Tradition sagt: Hätte Adam im Paradies damals gleich gesagt, "ja, ich war ungehorsam, verzeih mir", dann wären wir heut noch alle im Paradies, und es war nicht Eva, die daran schuld ist, sondern Adam. Die Harmonie zwischen Mann und Frau ist gebrochen, die Harmonie zwischen dem Menschen und der Natur ist gestört, die Welt ist uns feindlich, widrig geworden, Dornen und Disteln trägt sie uns, sagt das Wort Gottes zu Adam. Schließlich über allem unausweichlich der Tod, "Staub bist du und zu Staub kehrst du zurück".

Was hat das mit dem Gebet zu tun? Nun spüren wir, wie wichtig die Lehre von der Erbsünde ist, um zu verstehen, dass das ganze Drama des menschlichen Lebens, der menschlichen Seele, der Stoff unserer Gebete ist. Alle diese Risse, die durch uns gehen, die zwischen uns sind, zwischen den Menschen und der Welt, sind Gegenstand des Gebetes. Das Gebet ist einer der großen Wege der Heilung der Menschheit. Auf diesem Weg will Gott uns zurückführen zur inneren Harmonie, zur Versöhnung zwischen Mann und Frau, zur Versöhnung mit der Schöpfung. Doch jetzt schildert zuerst das AT die Geschichte der Risse, wie sie weitergehen, Kain und Abel. Der erste Brudermord, eine Folge des Risses der Ursünde, bis hin zu Noach, wo zum ersten Mal eine Wende kommt, die Sintflut, die gewissermaßen dem Bösen und seiner Verbreitung Einhalt gebietet und der Gott einen neuen Bund entgegenstellt: den Noach-Bund. Einen Bund mit der ganzen Schöpfung, weil Noach gerecht ist. Gott wird immer treu sein, verheißt er dem Noach. Der Regen- bogen, heißt es in der Genesis, ist das Zeichen, das Gott in den Himmel setzt, als Zeichen seines Bundes mit der Schöpfung, Saat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht wird Gott immer schenken. Dieser Bund gilt für alle Menschen. Wir verstehen deshalb, warum die Natur dieser weiteste Bund Gottes mit der Schöpfung, für so viele Menschen ein Weg zum Gebet ist.

Wer sagt "Ich gehe in den Wald um zu beten", mag recht haben, es ist deshalb kein Grund, nicht in die Kirche zu gehen, aber es ist tat- sächlich so mit der Schönheit, aber auch den Rätseln der Schöpf- ung. Warum sehen so viele Menschen Fernsehsendungen über die Schöpfung, über die Geheimnisse der Natur, warum fasziniert das so? Es ist die Sprache des Schöpfers und sie führt auch zum Ge- bet. Doch dann beginnt eine andere Geschichte und mit dieser Geschichte, beginnt die eigentliche Offenbarung des Gebetes. An einem Punkt, zu einem ganz bestimmten historischen Moment, spricht Gott einen Menschen an, diesen einen hat er bestimmt, Anfang eines neuen, eigenen, besonderen Bundes zu sein, Gott spricht Abraham an. Das ist für unser Verständnis von Offenbarung ganz entscheidend. Offenbarung geschieht in wirklichen, geschichtlichen Ereignissen.

Damals in Chaldäa hat Gott Abraham, diesen bestimmten Menschen gerufen. Die Geschichte dieses einen, dieses Abraham, ist zur Grundlage der ganzen Offenbarungsgeschichte geworden. Dieser Ruf verändert das Leben des Abraham, reißt ihn heraus, er wird zum Fremden im eigenen Land, in seiner Familie, in seiner Sippe. Er wird zum Pilger, zum Fremdling, auch in den Ländern, in die er kommt. Er verlässt auf den Ruf Gottes seine Verwandtschaft und sein Vaterhaus. Hier beginnt nun eine neue Geschichte, eine andere Geschichte des Gebetes, Gott bricht in ein Menschenleben ein. Mit einem Ruf, einer Forderung, einem Auftrag, und seither ist in Abrahams Leben alles anders geworden. Abraham ist seither ein Ausgesonderter, Gott hat ihn zum Fremden gemacht. Fremd zu Hause, fremd in seinem eigenen Land und fremd in dem Land, in das er kommt. Aber, und das ist das Neue, dafür wird er ein Vertrauter Gottes. Er hat alles verloren und alles gewonnen, er hat Gott gefunden. Gott hat ihn gerufen und sich ihm geoffenbart, er wird zum Vertrauten Gottes, er lernt Gott kennen. In immer neuen Begegnungen und Erscheinungen lernt er Gott kennen. Zwei große Momente aus diesem Kennen lernen möchte ich nennen: Mamre und Morija. Mamre, wir kennen die Ge- schichte in Genesis 18, wie Abraham vor seinem Zelt sitzt und in der Mittagshitze drei Pilger, drei Fremde, drei Gottesmänner kommen und er sie einlädt und ihnen ein Mahl bereitet. Diese drei, die er immer wieder auch im Singular anspricht, "mein Herr" ("tres vidit et unum adoravit", sagt Augustinus, "drei sah er und einen betete er an"), Bild, Vorbild der Dreifaltigkeit, so deutet es die Kirche.

Der Gottesbesuch. Gott sucht Abraham heim und er wird zum Gastgeber für Gott. Das gemeinsame Mahl, ein Bild einer unglaublichen Vertrautheit: Abraham wird mit Gott vertraut. Aus dieser Vertraut- heit wagt er es, Gott zu bitten, er handelt mit ihm, 50, 45, 40, 30, 20, 10 müssen genügen, 10 Gerechte in Gomorha und Sodom, damit Gott die Städte nicht zerstört. Abraham handelt mit Gott, er ringt mit Gott und wird zum Beter, er wird zum Vertrauten Gottes und damit zum Beter. Und das zweite, Morija: das Opfer Isaaks, Gott verlangt von Abraham, dass er seinen Sohn opfert, den ein- zigen, auf dem die ganze Verheißung ruht, die Gott ihm gegeben hat. Abraham geht auf den Berg Morija und ist bereit, Isaak zu opfern. Urbild des Fürbittgebetes: Mamre, Urbild der Ganzhingabe: Morija. Abraham ist bereit alles zu geben. Was geschieht in dieser Gebetschule, was geschieht in dieser ersten Offenbarung des Gebetes? Der Katechismus sagt: "Seit Gott Abraham in seinen Ratschluss eingeweiht hat, stimmt dessen Herz in das Mitleid des Herrn für die Menschen ein" (2571). Was geschieht? Gott offenbart sich einem Menschen und dieser Mensch wird allmählich hineingezogen in die Ähnlichkeit mit Gott, er beginnt ihn kennen- zulernen. Und er beginnt mit seinem Herzen zu fühlen und zu empfinden, er beginnt zu denken, wie Gott denkt. Gebet heißt Vertraut- Werden mit Gott, Abraham wird zum Freund Gottes. Aus diesem Vertraut werden mit Gott heraus wagt er es ihn zu bitten, wie ein Freund einen Freund bittet: "Rette Sodom und Gomorha" und da- mit wird Abraham durch das Beten Gott immer ähnlicher, denn Gott will ja nicht den Tod des Sünders, er will ihn ja retten, aber er will, dass wir Ihn darum bitten. So wird das Gebet zur Heimkehr ins Paradies, zur Rückkehr in die ursprüngliche Vertrautheit mit Gott. Deshalb sagt der Katechismus: "Das Gebet macht den Menschen wieder Gott ähnlich und lässt ihn an der Macht der Liebe Gottes teilhaben, die die Vielen rettet" (2572).

Brüder und Schwestern, eine Frage bedrängt uns doch: Wie hat Gott das gemacht, Abraham zu rufen? Hat er klare Weisung bekommen? Bekommen wir klare Weisung von Gott? Wie zeigt sich Gott uns? Hat Gott zu Abraham gesprochen mit einer hörbaren Stimme, "Zieh fort aus deinem Land, tu dies, lass jenes", wie hat Abraham Gott erfahren? Hat er ihn gesehen, seine Gestalt wahrgenommen, waren es äußere oder innere Stimmen? Eines sagt uns die Bibel ganz klar, Abraham hat geglaubt. Wie immer Gott sich ihm gezeigt hat, er musste auf dieses Sich zeigen Gottes mit Glauben antworten, er hat ihm vertraut und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet (Genesis 15,6). Sein Weg des Gebetes war also ein Weg des Glaubens und deshalb sagen wir, dass er der Vater aller Glaubenden ist, sein Gebet, seine Fürbitte für Sodom und Gomorha war Ausdruck seines Glaubens, ob er nun Gott mit seinen eigenen Augen gesehen hat oder nur innerlich wahrgenommen hat: geglaubt hat er. Das Gebet ist die Sprache des Glaubens und Abraham ist deshalb der große Beter, weil er geglaubt hat. Ich schließe, damit das deutlich wird, mit der Geschichte von Pranzini.

Die kleine hl. Theresia, mit 14 Jahren: Sie liest in der Zeitung, sie hört von dem Verbrecher Pranzini, der zum Tod verurteilt ist wegen mehrfachen Mordes, und sie erfährt, dass er unbußfertig ist. Ganz wie Abraham handelt sie mit Gott. Sie erbittet sich das ewige Heil Pranzinis, mit 14 Jahren, und sie sagt: "Selbst wenn Pranzini keinerlei Zeichen der Reue zeigen sollte, bin ich gewiss, dass Du mich erhörst." Das heißt, sie glaubt. Und Gott hat ihr das Zeichen gegeben. Pranzini hat unmittelbar vor der Guillotine, vor der Enthauptung, sich plötzlich noch einmal aufgerichtet und den Priester um das Kreuz gebeten und dreimal die Wunden des Gekreuzigten geküsst. Als Thérèse das in der Zeitung liest (verbotenerweise liest sie doch in der Zeitung), weiß sie, ihr Gebet ist erhört worden. Und sie schreibt: "Pranzini, mein erstes Kind." Abrahams Glauben, Thérèses Glauben, Schule des Gebetes. Wir werden nächstes Mal versuchen, ein wenig weiter in das AT hineinzugehen, um die Schule des Glaubens durch die lange Geschichte des AT als Schule des Gebetes zu betrachten.

Gelobt sei Jesus Christus!

 

 



 

 

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